© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Zeitschriftenkritik: "wirselbst"
Mythen soweit das Auge reicht
Werner Olles

"Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es für nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen", bemerkt Nietzsche in der "Genealogie der Moral" lakonisch. Dagegen geht es in der jüngst erschienenen Ausgabe 4/1999 (!) der Zeitschrift "wirselbst", die sich mit den Mythen der Völker befaßt, vergleichsweise harmonisch zu. "Welche Mythen sind unsere Mythen?" fragen die Autoren Henning Eichberg und Hans-Jürgen Lange und kommen zu dem erstaunlichen Resultat, daß dies nicht die christlichen, sondern die heidnischen sind. "Volklos, androgyn, individualisierend" sei der christliche Mythos, "eine Herrschaftsreligion für das Römische Reich und alle anderen Imperien", schreibt Eichberg und übersieht dabei, daß bereits im christlichen Schöpfungsmythos die Metamorphose allgegenwärtig ist. Materielles und Immaterielles waren auch hier Erscheinungen ein und derselben Wirklichkeit, und "Zeit" war gleichbedeutend mit Gleichzeitigkeit. Nur durch den Bruch mit der Urschöpfung wandelte sich das "Paradies" zu einer "Welt widerstreitender Ordnungen", in der der Mensch zu einer "ortlosen Existenz" wurde, dem dann in unserer heutigen Zeit zusätzlich noch die "Raum-Dimension" abhanden kam.

Auch Hans-Jürgen Lange erklärt in seiner "Wanderschaft zum Mythos der Schwarzen Sonne" den Heiligen Gral ganz aus seinen heidnischen Wurzeln. Nun braucht man den Gral gewiß nicht christologisch zu überhöhen, aber über die keltische Schicht legte sich unübersehbar die christliche: Die Tafelrunde des König Artus war ein neues Abendmahl, das Heinrich Himmler in seiner Wewelsburg dann bis zur Unkenntlichkeit trivialisierte. Wie der erzählerische Kern des Artus-Mythos ist auch der Gral unmittelbar auf die Kreuzigung Christi bezogen. Die Romantik von Wunden und Heilungen, von Liebe und Schmerz ist letztlich nichts anderes als in Literatur verwandeltes Christentum.

In Ellen Kositzas Beitrag "Undine" findet die Entschlüsselung des Mythos eher auf "körperlich-sinnlicher" als auf semantischer Ebene statt. Vielleicht fühlt man sich gerade deswegen magisch in diesen Text hineingezogen und scheint von den im eigenen Kopf erzeugten Bildern physisch betroffen zu sein. Liebe, Verführung und Fruchtbarkeit, die drei ewigen Wesenselemente des Weiblichen, verbinden sich in dieser kühnen Geschichte zur heilsgeschichtlichen Rechtfertigung und verweisen somit auf eine andere, völlig gegensätzliche Frauengestalt: Jeanne d Arc, die beschloß, allen irdischen Eitelkeiten zu entsagen, ihr Volk und ihr Land befreite und so zum nationalen und katholischen Mythos wurde. Ihr Geheimnis, das Geheimnis von Inspiration und Aktion, das einzigartige Zusammenspiel von Glauben, politischem Willen, kindlicher Reinheit, mädchenhafter Zartheit und mitreißender Energie, bestand in ihrer ständigen Annäherung an Christus. Aber wo der Mythos auftritt, ob in Gestalt der zur mystisch-erotischen Ikone stilisierten Undine oder der Jungfrau von Orleans, sind Psychologie und Wahrscheinlichkeit suspendiert; das Unerklärliche ist sein Terrain.

"Rechte für Menschen und andere Tiere" fordert Holger Schleip in seinem Beitrag und knüpft damit an den Mythos vom "Bruder Tier" an. Hier hat das Christentum in der Tat bis auf wenige rühmliche Ausnahmen – der Heilige Franziskus: "Ich sah einen Ochsen weinen" – recht schmählich versagt. Den Mythos "wirselbst" erklärt Herausgeber und Chefredakteur Siegfried Bublies hingegen in seinem "Rückblick auf den Versuch einer publizistischen Topographie des Hufeisens". Eine Selbstreflexion, die niemals zur Selbstbespiegelung wird, die spannende Sozialgeschichte eines Zeitschriftenprojekts, dem man eigentlich nur noch eines wünschen möchte: eine zuverlässige, regelmäßige Erscheinungsweise. Werner Olles

Verlag S.Bublies, Postfach 200222, 56002 Koblenz. Der Einzelpreis beträgt 10 Mark, vier Ausgaben kosten 46 Mark, für Schüler und Studenten 36 Mark.


 
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