© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Er wieder, mit Gottesauge
Zweierbeziehungen: Zu Botho Strauß’ neuem Buch "Das Partikular"
Baal Müller

Ich präzisiere lediglich das Detail aus einer transzendenten Gestimmtheit", sagte Botho Strauß kürzlich in einem Zeit-Interview; theologische und sonstige metaphysische Lehren habe er nicht anzubieten, erst recht keine wohlmeinenden politischen Ratschläge. Freilich meidet er die Öffentlichkeit auch nicht ganz: Als "nicht ausübender Gesellschaftsmensch" hat er sich in die selbstgewählte, nur mühsam ertragene Einsamkeit begeben, um gerade durch die soziale Askese seinen mikroskopischen Blick für die feinen Verästelungen des menschlichen Mit- und Nebeneinander zu schärfen. Die dabei noch verbleibenden Beziehungen werden durch eine solche – dem Dichter als Außenseiter und Randgänger in der Moderne durchaus angemessene – experimentelle Lebensform der alles verdünnenden Spaßgesellschaft entzogen und gleichsam auf ihr Wesentliches hin konzentriert, "wobei diese Überempfindlichkeit zu gewissen Übertreibungen führt, die aber manchmal besser dazu taugen, die Wahrheit aufzuspüren".

Vielleicht steht hinter dieser Sensibilität für das Kleine, oft Abseitige und Absonderliche Walter Benjamins Vorstellung, daß gerade vom Extremen der Begriff ausgehe. Die Idee ist demnach nicht mit dem Allgemeinen, dem allen Gemeinen identisch, sondern sie stellt, ähnlich dem Sternbild, eine Konstellation dar, die durch ihre äußersten Punkte beschrieben wird. Erst wer diese abgeschritten hat, wird zu einer Erkenntnis gelangen. Wer nur das in der Mitte Liegende, Gewohnte und Vertraute kennt, der begreift in Wirklichkeit nichts. Der logischen Seite der Erkenntnis, der Einsammlung der Extreme, der Abgrenzung eines Gegenstandes von dem, was er nicht ist, entspricht ein existenzielles Grenzgängertum, das aus der Distanz die Welt um so genauer beobachtet.

Die letztmögliche Steigerungsform dieser Perspektive bezeichnet "das Partikular", nach dem Botho Strauß' neues Buch seinen Titel trägt. Offensichtlich bezeichnet der eigentümliche Neologismus sowohl das Gesehene wie dasjenige, wodurch man es sieht: das Partikuläre und das Okular. Auch den Umschlag des Buches ziert ein magisches Sehorgan, nämlich "Das Auge Gottes" (1948) von Wols.

Überall in dem Werk wird das Sehen, Abbilden, Malen und Fotografieren thematisiert und vorexerziert: Gleich zu Beginn des ersten Kapitels, in dem "Sie wieder", die "Beifahrerin eines mißmutigen Mannes" eine andere, weltabgewandte Frau durch das "Partikular" der Autoscheinwerfer erkennt: "Die Frau saß auf der Uferböschung mit dem Rücken zur Schnellstraße. Im Streiflicht der Scheinwerfer sah man für den Bruchteil der Sekunde, daß sie ihr Schultertuch ein wenig zurücksetzte, es straffte, den weißen Nacken hob (…)", eine unbedeutende Geste, die in ihrer Nichtigkeit doch zum "Blickfang" werden kann.

Geht es hier noch vergleichsweise alltäglich und tatsächlich partikulär zu, so entfalten andere dieser Minimalgeschichten und Anekdoten des Alltäglichen eine sehr komplexe Symbolik und zuweilen surreale Emphase: Das dritte Kapitel, die "Das Partikular" überschriebene Titelgeschichte, handelt von einem Mann, der ein Porträt von sich in Auftrag gegeben hat; er sitzt allerdings nicht vor irgendeinem Maler, sondern vor demjenigen, "der mit der Sensenspitze malt". Der Akt des Malens und Abbildens ist eine schleichende, mühselige Mortifikation, die dem malenden Sensenmann, einem schüchternen Mann von Zweimeterzehn, auch dadurch nicht leichter gemacht wird, daß er das gesamte bisherige Leben – den "biographisch spirituellen Komplex" – seines Auftraggebers "wie ein akademisches Fach" studieren muß. "Es wurde im Grunde genommen von ihm verlangt, daß er jede Lebenskrume berücksichtige, jede Lebensritze mit Phantasie ausfülle, bevor er in die Schlußphase der Vorarbeiten eintrete."

Die Schwierigkeit besteht für den Maler nicht nur darin, etwa für jeden begangenen Betrug "eine eigene Farbnuance" zu finden, sondern sie resultiert auch aus der zunehmenden Formlosigkeit seines Gegenübers: "Bemerken Sie das Unausgeprägte meiner Gesichtszüge? Wundert es Sie nicht? Ich bin der Unfertige erst mit den Jahren geworden. Die Gesichtszüge gingen über das Charakteristische hinaus, sie machten nicht halt, (…) das Gesicht war bereits fertig, als die Falten und Kanten sich wieder zu dehnen begannen. Die Kanten, die das Erlebte geschlagen hatten, rundeten sich wieder, das fertige Gesicht schmolz wieder zu neuer bildbarer Masse, zu amorpher Erwartung."

Das Modell gleicht einem umgekehrten Dorian Gray, denn während diesem sein Porträt alle begangenen Sünden unbestechlich anzeigt und seine Individualität immer schärfer präzisiert, entzieht sich Strauß’ Porträtierter jeder Gestaltung und Abbildung, je mehr Fakten über sein Leben er zusammenträgt, so daß sein Bildnis eigentlich das Verschwinden selbst darstellen müßte.

Neben der Perspektive des malenden Todes, der nur den Ablauf der Zeit wahrnimmt, gibt es noch eine andere, göttliche Sicht, auf die sich der Auftraggeber vor seinem Maler beruft: "Gesehen aber, wahrhaftig gesehen werde ich nur durch Sein Partikular. Das Partikular, durch das der Ewige uns sucht, erfaßt uns ohne zeitliches Brimborium, ohne geschichtliche Ergänzung und Verfälschung." Es löst jeden aus seinen sekundären Kontexten heraus und erkennt ihn "in seiner göttlichen Vereinzelung".

Die Menschen in Botho Strauß’ kurzen Erzählungen besitzen kein solches Partikular; sie leben verständnislos nebeneinander her, bis die Wahrheit plötzlich durch einen Riß im Gewohnten zutage tritt und sich das Absurde offenbart, mit dessen Hilfe sie bislang ihr Dasein fristeten. Eine mißglückte und unvollkommene Schöpfung ist der Mensch, dem die Welt nur als ein Chaos zusammenhangloser Dinge erscheint; er ist "zu entfernt vom Zerstreuten, um ihm anzugehören, doch nah genug, um es zu fürchten, das Chaos, den Schlinggrund der Unmenge. Wir hätten ein Gott der Nichtigkeiten sein können, wenn wir jemals unser Maß, wenn wir jemals den richtigen Abstand zu den Dingen gefunden hätten".

Ein solcher wird im vierten Kapitel, das "Dem Gott der Nichtigkeiten" gewidmet ist, vorgeführt: ein absonderlicher Einsiedler und "Plunder-Priester", der in seiner sogenannten "Kathedrale", einer alten Scheune, über Unmengen von Kleinteilen, Abfällen, sinnlosen Gegenstände gebietet, die marionettenartig an hauchdünnen Fäden aufgehängt sind. Von einer Art Cockpit aus kann er all diese "blasphemischen Stimulanzien" bewegen, um, wie sein Besucher wähnt, "schwarze pädophobe Liturgien" abzuhalten. Tatsächlich hat der angeblich Pädophobe, dessen verquere Ansichten über Kinder der Besucher korrigieren zu müssen glaubt, dessen Sohn längst auf seine Seite gezogen. Gemeinsam simuliert der Plunder-Priester mit dem Jungen eine Opferszenerie, die entfernt an Abrahams Opfer seines Sohnes erinnert. Alles ist jedoch umgekehrt: Während Abraham seinen Sohn wirklich opfern soll, dies auch zu tun beginnt, worauf Gott jedoch einschreitet, wird hier das Opfer durchaus, wenngleich nur virtuell, vollzogen. Nicht Gehorsam und Ergebung werden geprüft, sondern der Gott des Plunders verhöhnt seinen nur verbal kinderfreundlichen Besucher durch die Vorspiegelung eines Opfers, das er nicht zu verhindern imstande ist.

Etwas unvermittelt zwischen den drei Prosakapiteln des Buches, die meist von der Fehlkommunikation zwischen Liebenden handeln, steht eine längere lyrische Passage: "Hüte-die-Fährte", ein ins Zeitgenössische übersetztes Gedicht aus der walisischen Legendensammlung des "Mabinogion". Der Wechselgesang läßt den Ritter Geraint und seine Frau Enid zu Wort kommen, die sich beide auf ihr einsames Schloß zurückgezogen haben. Geraint verbringt seine Zeit nur noch mit Enid, "denn mit ihr zusammen zu sein war das einzige, was ihm niemals Verdruß bereitete". Er ist gleichsam selbst zu einem Partikular für die Geliebte geworden: "Ein verfluchter Parabolspiegel bin ich, der aus dem ganzen Äther nur eine einzige Wellenlänge empfängt".

Botho Strauß ist kein solcher pensionierter Artusritter, der nur eine Wellenlänge vernimmt; vielmehr zeugt "Das Partikular" von seinem Versuch, alle möglichen Wellen und Strömungen, auch das Abseitigste und Unaussprechliche, zu empfangen. Leicht hat er es seinen Lesern nicht gemacht, unvermittelt und trotz ihres artifiziellen Charakters fast skizzenhaft folgen die einzelnen Anekdoten aufeinander. Nicht jeder wird das Buch bis zum Ende lesen; wer es aber einmal geschafft hat, wird es auch noch ein zweites oder drittes Mal zur Hand nehmen.

 

Botho Strauß: Das Partikular. Hanser Verlag, München 2000, 220 Seiten, geb., 34 Mark


 
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