© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Der rote Kanzler im freien Baltikum
Carl Gustaf Ströhm

Es gehört zu den Absurditäten deutscher Außenpolitik, daß der erste deutsche Kanzler, der je ins Baltikum kam, kein Unionspolitiker war, sondern Gerhard Schröder. Neun Jahre mußten die Esten, Letten und Litauer nach der Unabhängigkeit auf einen deutschen Kanzlerbesuch warten.

Helmut Kohl, der viel von Vaterland und Geschichte redete, mochte die Balten nicht, weil sie Sauna-Freund Boris und vorher Gorbi störten. In Erinnerung ist die grobschlächtige Art, mit der Kohl seinerzeit den litauischen Präsidenten Vytautas Landsbergis anpfiff, als dieser es wagte, die Unabhängigkeit für sein Land anzumahnen. Ein Briefwechsel Kohls mit dem estnischen Präsidenten Lennart Meri wurde vom Kanzler in solcher Eiseskühle geführt, daß man meinen konnte, Kohl wimmele einen lästigen Bittsteller ab. Und als Moskau gegen ein Rigaer Veteranentreffen der im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite kämpfenden lettischen Legion protestierte, stellte sich der Unionskanzler nicht etwa vor die Letten, sondern ergriff die Partei Moskaus. Das veranlaßte Estlands Präsident Meri zu dem Bonmot, Kanzler Kohl wolle am liebsten eine "Reichsautobahn" von Berlin nach Moskau bauen, was Meri später zu "Bundesautobahn" revidierte.

Für die konservative Regierung Estlands war insofern der Besuch eines SPD-Kanzlers eine Wohltat, weil Schröder nicht im selben Maße durch russophile Sauna-Sentimentalitäten belastet ist. Außerdem stammt Schröder aus dem norddeutsch-protestantischen Raum. Mentalität und Atmosphäre, besonders der alten Hansestädte Reval (Tallinn) und Riga, liegen ihm wohl wesensmäßig näher als dem katholischen Pfälzer Kohl.

Dennoch litt der Schröder-Besuch unter gewissen Hypotheken. Jeder deutsche Politiker, der sich im Baltikum aufhält, steht in der Versuchung, den Besuch als Mittel zur Akzentuierung des deutsch-russischen Dialogs mißzuverstehen. So schwankte Schröder in seinen öffentlichen Reden zwischen Lob – etwa für die vorbildliche Tradition estnischer Minderheitenpolitik – und Ermahnungen, doch ja den Sprachengesetzen (zugunsten der Russen) Geltung zu verschaffen. Daß ein großer Teil der in Estland und Lettland lebenden Russen keine autochthone Minderheit, sondern "Okkupationsüberbleibsel" sind, wollte Schröder gar nicht wissen.

Wenn Schröder davon sprach, von Rußland gehe für das Baltikum keine Bedrohung aus, so blieb das nur höflichkeitshalber unwidersprochen. Noch seltsamer empfanden die Gastgeber einen Satz, in dem Schröder meinte, ohne ein "blühendes, demokratisches und stabiles Rußland" werde es "kein stabiles Europa geben". Wenn Schröders Prämisse stimmen sollte, dann kann Rußland die Stabilität oder Instabilität des Westens nach Belieben bestimmen.

Da war sie also wieder – die alte deutsche "Rußland zuerst"-Politik, diesmal in SPD- Verkleidung. Die deutsche Politik sollte besser jeden der drei Staaten als eigenständige Größe sehen. Es war nicht notwendig, daß ein deutscher Kanzler die drei baltischen Metropolen im Galopp absolvierte.

Es blieb zwei anderen Baltikum-Reisenden vorbehalten, klare Worte zu sprechen. Der türkische Außenminister Ismail Cem sagte bei einem Estland-Besuch, sein Land messe der Rolle des Baltikums eine besondere strategische Bedeutung bei. Und der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott wies Moskauer Vorwürfe, in den baltischen Republiken rege sich der Neo-Nazismus, als "unwahr" und unbegründet zurück. Der Kanzler traute sich nicht, so etwas zu sagen.


 
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