© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Der Phönix aus dem Unruhestand
Frankreich: Der ehemalige Präsident Valéry Giscard d’Estaing will auf die europäische Bühne zurück
Charles Brant

Frankreichs Ex-Präsident kehrt im Triumph auf die politische Bühne zurück. Die zwei Pferde, die er dazu gesattelt hat, heißen: Europa und der "Quinquennat", die Verkürzung der Amtsperiode des Präsidenten von jetzt sieben auf nur noch fünf Jahre.

Hinter dieser Gesetzesinitiative, die derzeit in der politischen Klasse Frankreichs enorme Wellenschläge verursacht, steckt kein anderer als Valéry Giscard d’Estaing. Mag er es noch so sehr leugnen: Wer sich in der französischen Politik auskennt, weiß, daß der ehemalige Präsident sich auf einem Rachefeldzug befindet. Der Mann, dem man den Spitznamen "Pharaoh" verliehen hat, weil seine Gesichtszüge denen der Mumie von Ramses II. ähneln, kann gar nicht anders, als sich über die Bredouille zu freuen, in der sich der derzeitige Amtsinhaber befindet. Er hat Jacques Chirac, der einst sein Premierminister war, niemals dessen Beitrag zu seiner Wahlniederlage im Mai 1981 vergeben, auch wenn er inzwischen beteuert, sein Zorn wäre längst verflogen. Mit geduldiger und bitterer Akribie hat er seither Buch geführt über sämtliche Fettnäpfchen, in die sein unloyaler Kadett getreten ist. Jäger, der er ist, hat Giscard neunzehn Jahre lang auf der Lauer gelegen, um einen günstigen Moment abzupassen. Nun ist es soweit, und Giscard erlebt ein spektakuläres Comeback – als weiser Prophet und Erteiler notwendiger Lektionen. Das lange Warten hat sich ausgezahlt, denn inzwischen hat Chirac signalisiert, er halte die von Giscard angeregte Verfassungsänderung für eine "moderne, nützliche Reform ohne Risiken" und wolle sie nach einem vorhergehenden Referendum bis Ende September unter Dach und Fach bringen. Bei den Debatten um die Zukunft Europas in der Nationalversammlung hat sich Giscard diesen Mai in Topform gezeigt und konnte sich im Applaus sonnen. Giscard d’Estaing ist zwar überzeugter Europäer – aber einer der wenigen unter ihnen, die sich Vorbehalte und Sorgen um die Zukunftsperspektiven erlauben, statt blauäugig in den Tag hinein zu leben. Schon 1986 gründete der gelernte Wirtschaftsprüfer zusammen mit Altkanzler Helmut Schmidt das "Komitee für die europäische Währungsunion", dem beide vorstehen. Geboren 1926 in Koblenz als Sohn des Finanzdirektors der französischen Besatzungskommission und befreundet mit beiden Helmuts – Kohl wie Schmidt –, war er ein Freund der Deutschen, gegen die er im Zweiten Weltkrieg noch gekämpft hatte. Und so verwundert es auch nicht, daß er vehement auf die "Aussagen" von Innnenminister Jean-Pierre Chevènement reagiert hat (JF 24/00).

Seine Niederlage hinterließ derzeit einen bitteren Nachgeschmack bei Giscard. Später gab er zu, wie sehr er sich damals in seinem Stolz getroffen fühlte. Über Nacht fand er sich aus dem Paradies vertrieben, ohne sich irgendeiner Sünde bewußt zu sein. Wie wird man mit so einer traumatischen Erfahrung fertig? Giscard war der jüngste Präsident, den die Republik je hatte. Er genoß ein außerordentliches Wohlwollen von allen Seiten. Sogar ein neuer Stil in der französischen Politik ist ihm zu verdanken, der Jacketts verschmähte und seine Aufgaben als Präsident lieber lässig im Pullover wahrnahm. Nicht zuletzt tat er sich als Akkordeonspieler und Gastgeber von Dinnerpartys hervor. Giscard sah sich selbst als französischer Kennedy und wollte Frankreich managen wie ein Unternehmen. Indem er aber die Funktionen des Präsidenten ihrer nahezu sakralen Würde beraubte und einer "fortgeschrittenen Liberalität" Bahn brach, trug er zu seinem eigenen Untergang bei. Letztendlich zogen die Franzosen, die immer noch dem Prunk von Versailles nachhängen, ihm den alten Sozialisten Mitterrand vor.

Mehr als an einem Sitz im Verfassungsrat war Giscard d’Estaing daran gelegen, sein Wählerpotential zu reaktivieren. Er kann durchaus auf eine Rückkehr an die Spitze hoffen. Als Abgeordneter und Regionalratspräsident der Auvergne nimmt er im politischen Leben Frankreichs eine Sonderposition ein: die des einzigen und einzigartigen einstigen Präsidenten der Republik. Ehrgeiz, Rachegelüste und Berechnung verbinden sich zu einer explosiven Mischung in einer Persönlichkeit, die vorgibt, simpel zu sein. Worauf hat er es abgesehen – auf einen erneuten Anlauf auf das Amt des Präsidenten? Gemunkelt wird, daß er sich am besten in der Rolle des ersten Präsidenten der Europäischen Union gefallen würde. Wie dem auch sei, seine Wiederkehr war ein phönixgleicher Aufstieg aus der Asche.


 
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