© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
"König ist Kult"
Henning von Löwis of Menar über die deutsche Vergangenheit, die russische Gegenwart und die baltische Zukunft Königsbergs
Moritz Schwarz

Sie kennen Königsberg und Ostpreußen durch Ihre Arbeit vor Ort für den Deutschlandfunk?

Löwis of Menar: Ich war von 1989 bis 1994 Korrespondent des DLF in Mecklenburg-Vorpommern. Von Rostock – der Partnerstadt Rigas – aus haben wir Brücken geschlagen ins Baltikum: Wir haben Funkexpeditionen ins Baltikum, nach Estland, Lettland, Litauen und schließlich auch nach Königsberg unternommen. In der Hörerschaft haben unsere zahlreichen Reportagen und Live-Berichte eine gewaltige Resonanz hervorgerufen, mit der auch viele Spenden einhergingen. Heute bin ich wieder in der Zentrale in Köln. Dennoch kümmere ich mich auch von Köln aus weiterhin intensiv um den baltischen Raum, besonders um Königsberg.

Sind Sie für Ihr Engagement für das alte Ostdeutschland je angegriffen, beschimpft oder unter Druck gesetzt worden?

Löwis of Menar: Nein, im Gegenteil, ich habe immer viel Zustimmung bekommen. Nicht nur von unseren Hörern, auch von russischer Seite.

Wir sprechen jetzt von dem von Rußland geraubten Norden Ostpreußen. Haben Sie auch den polnisch annektierten Süden besucht?

Löwis of Menar: Ich kann nur über das litauische und russische Ostpreußen sprechen, da ich das polnische zu wenig kenne.

Nord-Ostpreußen gilt als Armenhaus des Baltikums. Wie ist die Situation dort?

Löwis of Menar: Es sieht nicht ganz so finster aus, wie manche Meinungsmacher uns glauben machen wollen. Man muß bedenken, daß die russischen Statistiken, denen zufolge jeder zweite dort an der Armutsgrenze lebt, die Schattenwirtschaft außer acht lassen. Die Menschen üben nicht selten verschiedene Tätigkeiten aus, haben mehrere Einnahmequellen. Alte Frauen verkaufen Gemüse und Blumen aus ihren Gärten. Natürlich gibt es viel Armut, besonders unter den Rentnern. Aber all das heißt nicht, daß die Leute hungern oder Ostpreußen insgesamt ein Notstandsgebiet wäre. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind eklatant: Königsberg ist inzwischen eine moderne und pulsierende Großstadt. Die Lage auf dem flachen Land ist dagegen außerordentlich desolat. Die alten Kolchosen und Sowchosen wurden aufgelöst. Die neuen Agrargenossenschaften funktionieren mehr schlecht als recht. Die Landwirtschaft liegt völlig am Boden, hier sieht es schlimm aus.

Wie ist die politische Situation – in welchem Verhältnis befindet sich die Provinz zum russischen "Mutterland"?

Löwis of Menar: Das Kaliningrader Gebiet ist eines von 89 Subjekten der russischen Föderation. Diese 89 Subjekte sind sehr unterschiedlich strukturiert, manche sind Republiken, wie Tartastan oder Jakutien. Das Königsberger Gebiet hat eine gewisse Sonderrolle. Es ist eine sogenannte Sonderwirtschaftszone. Das heißt, es gibt besondere Steuervergünstigungen für ausländische Investoren. Das ist auch ein Grund, warum BMW nach Königsberg gegangen ist. Allerdings sollten Investoren verläßliche russische Partner haben, denn die Gesetze sind ziemlich kompliziert. Dennoch tut sich wirtschaftlich eine ganze Menge, leider nicht so sehr von deutscher Seite.

Wie aber ist das politische Selbstwertgefühl der Kaliningrader Russen in bezug auf ihren Staat? Fühlt man sich Moskau nah oder fern?

Löwis of Menar: Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, mit wem man spricht. Die Veteranen sehen das mehr dogmatisch, die jungen Leute eher pragmatisch. Die Jungen sind vor allem daran interessiert, daß es ihnen einmal besser geht. Sie schauen auf die Landkarte und stellen fest, Berlin ist näher als Moskau. Von Moskau werden wir oft vernachlässigt, also wenden wir uns doch lieber in Richtung Berlin, lieber in Richtung Westen. So langsam entwickelt sich in Kaliningrad eine eigene Identität.

Können Sie diese Identität näher beschreiben?

Löwis of Menar: Ich treffe junge Russen, die aus voller Überzeugung sagen: "Ich bin Königsberger!" Kaliningrader? "Nein, ich bin Königsberger, ich möchte mit Stalins Gefolgsmann Kalinin nichts am Hut haben." Natürlich gibt es auch Menschen, die auf "Kaliningrad" bestehen, aber "König" ist derzeit in vieler Beziehung geradezu Kult in Königsberg. Die Verkürzung von "Königsberg" findet sich als Graffiti auf Häuserwänden und Brücken. Das Königsberger Schloß und der preußische Adler zieren Wodka-Flaschen. Das größte Busunternehmen der Stadt ist "König-Auto". Es gibt "König-Bier", und vieles mehr. Ich persönlich finde den Namensstreit Kaliningrad/ Königsberg überflüssig. Die Menschen am Pregel haben ganz andere Sorgen. Entscheidend ist, daß es ihnen endlich besser geht.

Ist es vorstellbar, daß die Menschen dort sagen, wir wollen die Unabhängigkeit von Rußland und eine eigene, eine vierte baltische Republik?

Löwis of Menar: Es gibt eine Baltisch-Republikanische Partei, die solche Vorstellungen hat, im Moment aber nicht sehr stark ist. Zur Zeit hätte eine "Los-von-Moskau"-Bewegung keinerlei Chance, doch das kann sich sehr schnell ändern, je nachdem in welchem Maße das nördliche Ostpreußen von Moskau vernachlässigt wird. Und es wird im Stich gelassen. Auch Moskauer Verantwortliche sagen, daß Rußlands Kräfte nicht ausreichen, daß die Kaliningrader sich selber helfen müssen.

Ostpreußen war ein Teil des Deutschen Reiches, das heißt Teil unserer Nation. Es gibt aber auch viele, die auf dem Standpunkt stehen, wir haben dort nur ein Erbe zu verwalten. Das sind zwei verschiedene Arten von Verlustgefühl. Wie definieren Sie Ihr Interesse an Königsberg?

Löwis of Menar: Ich fühle mich dem baltisch-russischen Raum sehr verbunden. Unsere Familie stammt aus Schottland und kam mit dem Schwedenkönig Gustav Adolf ins Baltikum, wo sie bis Anfang des 20. Jahrhunderts lebte. Friedrich von Löwis of Menar war ein vom Zaren hochdekorierter Russisch-kaiserlicher Generalleutnant, der militärisch die Weichen stellte für die Konvention von Tauroggen; Karl von Löwis ein namhafter baltischer Heimatforscher, der heute gerne von den Letten vereinnahmt wird; August von Löwis ein Mann, der sein Leben der Erforschung und Bewahrung russischer Märchen widmete. Aus meiner Sicht gehört Königsberg im weitesten Sinne zum baltischen Raum. Darum engagiere ich mich auch so stark für das "Nachbarland" Ostpreußen. Ostpreußen ist eine wichtige Kulturregion, ein bedeutendes Stück Europa, das man nicht einfach verkommen lassen kann. Und Deutschland hat nach meiner Ansicht die historische Verpflichtung, sich darum zu kümmern, weil es siebenhundert Jahre lang deutsch war. Ich bin kein Ostpreuße, aber ich finde, Deutschland sollte dort mehr Flagge zeigen.

Sie sehen sich also in dieser Frage eher der Tradition der Region verpflichtet als der Tradition Deutschlands.

Löwis of Menar: Beides ist sicher legitim. Ich habe Verständnis für die Deutschen, die zu Ostpreußen stehen, weil es ihre Heimat ist. Ich habe auch sehr eindrucksvolle Begegnungen mit Ostpreußen gehabt. Sie leben nun seit mehr als einem halben Jahrhundert in Westdeutschland, aber noch immer betrachten sie Königsberg als ihre Heimat. Und nicht selten bauen sie Brücken zwischen alter und neuer Heimat. Das ist eindrucksvoll, das verlangt Respekt.

Die Einheit der Nation ist eine demokratisch-republikanische Idee. Deshalb kann in einem Nationalstaat wie der Bundesrepublik Deutschland auch der Württemberger, der Rheinländer oder der Mecklenburger sagen: Auch ich habe einen Anspruch auf Königsberg! Wie sehen Sie das?

Löwis of Menar: Das Problem ist, ich sehe da von deutscher Seite keinerlei Interesse. Das wird von politischer Seite systematisch abgeblockt. Zurückhaltung kann unter Umständen eine weise Politik sein, doch meine ich, daß Deutschland in puncto Königsberg jetzt Flagge zeigen muß. Meine russischen Freunde sagen mir immer, daß sie nicht begreifen können, warum Deutschland sich passiv verhält.

Was genau stellen sich die Russen vor, wenn sie fordern, die Deutschen sollen mehr Flagge zeigen?

Löwis of Menar: Sie sollen sich vor allem mehr beim Aufbau ihres Landes engagieren. Das sind bislang nur vereinzelte Initiativen, zumeist von Vertriebenen-Kreisgemeinschaften oder aber von der Kirche. Da wird eine sehr verdienstvolle Arbeit geleistet. Warum engagiert man sich für den Königsberger Dom nicht in gleicher Weise wie für den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden? Das war ein bedeutender deutscher Dom! Vor allem dank russischer Tatkraft, dank des russischen Dombaumeisters Igor Odinzow, ist der Dom heute wieder zum Wahrzeichen Königsbergs geworden. Doch viele alte Ordenskirchen auf dem Land verfallen immer mehr.

Wenn man die deutsche Gesellschaft mit dem Thema Ostpreußen konfrontiert, dann vermittelt sich das Gefühl, daß für sie Ostpreußen tot, erledigt und abgeschlossen ist.

Löwis of Menar: Königsberg hat immer eine herausragende Bedeutung in der deutschen und preußischen Geschichte gespielt. Immanuel Kant, Käthe Kollwitz, Agnes Miegel, Lovis Corinth, E.T.A. Hoffmann und viele andere sind hier zu Hause. Das kann man nicht einfach ignorieren und ausgrenzen. Bezeichnenderweise sind es die Russen, die Kaliningrader, die heute diese Tradition pflegen. Wie können die Deutschen das einfach verdrängen? Wir können doch stolz auf Ostpreußen sein!

Wenn wir also Ostpreußen nicht zurückbekommen, sondern es russisch bleibt, wo ist dann der Spielraum für politische Veränderungen?

Löwis of Menar: Mit Rußland ist viel – fast alles – möglich. Gegen Rußland nichts. Königsberg bietet einmalige Chancen für den Brückenbau zwischen Deutschland und Rußland. Warum kaufen sich nicht mehr Deutsche beispielsweise schon heute ein Ferienhaus in Rauschen oder Cranz? Man kann zwar kein Land erwerben, aber pachten. Es wird niemand ausgesperrt aus der alten Heimat. Und nicht wenige Rußlanddeutsche haben in Königsberg eine neue Heimat gefunden.

Das verweist genau auf das entscheidende Versäumnis: Es gibt keine aktive deutsche Ostpreußenpolitik. Daran denkt man noch nicht einmal!

Löwis of Menar: Eine solche Politik müßte in europäische Politik eingebettet sein. Auch Litauen, Polen und Rußland müßten eingebunden werden. Die Frage ist, auf welche Weise soll Königsberg letztlich in die baltische Region integriert werden. Dazu gibt es viele Ideen und Anregungen. Nur Deutschland steckt den Kopf in den Sand und betreibt eine Vogel-Strauß-Politik. Die Gefahr ist, daß Deutschland den Wandel, der sich abzeichnet, schlicht verschläft.

Würden Sie als Experte morgen in ein Beratergremium geladen werden, weil Deutschland sich zur Rückkehr zu einer verantwortungbewußten Nordosteuropa-Politik entschlossen hätte, was würden Sie vorschlagen?

Löwis of Menar: Zumindest die Bereitschaft zu signalisieren, sich auf die Initiativen der anderen Ostseeanrainerstaaten einzulassen. Aber Sie hören von deutscher Seite ja immer: "Laßt die anderen mal machen, das ist zu gefährlich." Und die Russen hätten Angst vor einer Regermanisierung. Dabei ist das völliger Unsinn. Das hat gerade wieder der Bürgermeister von Königsberg, Jurij Sawenko, in einem Interview mit dem Spiegel deutlich zum Ausdruck gebracht. Wörtlich sagt er: "Das ist schlichtweg Unsinn. Ich sehe da keine Gefahr. Solche Geister aus der Geschichte schrecken hier keinen mehr. " Das sind Argumente, die von Deutschland immer wieder ins Feld geführt werden, um die Hände in den Schoß zu legen.

Aber wie soll eine aktive Ostpreußenpolitik aussehen?

Löwis of Menar: Man sollte zumindest strategische Überlegungen anstellen, was zu tun ist, wenn sich die politische Situation ändert. Und die Situation wird sich ändern, denn die Dreiteilung Ostpreußens ist unnatürlich. Der Punkt ist, wenn Polen und die baltischen Staaten in die EU aufgenommen werden, dann gehen gegenüber Königsberg die Grenzen hoch. Und das wollen die Russen unbedingt verhindern. Sie wollen kein isoliertes, kein diskriminiertes Königsberg, umzingelt von EU- und möglicherweise Nato-Staaten. Hier sollten Deutschland und Rußland an einem Strang ziehen. Aber man beantwortet in Deutschland ja noch nicht einmal russische Initiativen.

Sie sprechen von der zwingenden Einheit Ostpreußens. Sind nicht die Deutschen diese Klammer der Einheit gewesen? Ist diese nicht mit der Austreibung der Deutschen verloren gegangen?

Löwis of Menar: Das ist schon richtig, doch es handelt sich um einen historischen Kulturraum, der nicht durch willkürliche politische Grenzen geteilt werden darf. Diese Einheit ist auf Schritt und Tritt spürbar im Raum zwischen Memelland und Masuren, im alten Preußenland. Dort leben Menschen, die nach Wurzeln suchen – nach Identität. Und die finden sie nicht zuletzt in der Geschichte ihrer heutigen Heimat. Hinzu kommt der Drang nach Westen, der hier sehr schnell vieles verändern wird.

Sie haben bereits erwähnt, daß es unter den völlig desinteressierten deutschen Politikern einige wenige gibt, die doch ein Bewußtsein für diese Frage haben?

Löwis of Menar: In der Tat sehr, sehr wenige. Manfred Stolpe oder Heinz-Werner Arens, der Landtagspräsident in Kiel, sind rühmliche Ausnahmen. Es ist dem persönlichen Engagement dieser Männer zu danken, daß wenigstens die beiden Länder Schleswig-Holstein und Brandenburg in Ostpreußen Flagge zeigen und etwas für Königsberg tun.

Rührt das von Stolpe immer wieder nach außen demonstrierte preußische Bewußtsein?

Löwis of Menar: Das könnte ich mir vorstellen. Ich glaube, er ist außerdem ein großer Bewunderer von Königin Luise. Sie ist ja in dieser Region so eine Art Nationalheilige.

Erstaunlich, denn Königin Luise wurde ja einmal von den Deutschen heiß verehrt und ist heute leider völlig vergessen?

Löwis of Menar: Sie hat ein großes Comeback in Ostpreußen, vor allem in Memel. Im vergangenen Jahr wurde in Memel eine Gedenktafel für die Königin enthüllt. In Cranz gibt es ein Hotel "Königin Luise". Das Wahrzeichen von Tilsit ist heute wie früher die Konigin-Luise-Brücke.

Sind also Russen und Litauer die "besseren Deutschen"?

Löwis of Menar: Was die Pflege des preußischen Erbes angeht, würde ich das uneingeschränkt bejahen.

 

Dr. Henning von Löwis of Menar geboren 1948 in Freiburg/Elbe (Niedersachsen). Studierte Politologie, Öffentliches Recht und Lusitanistik in Hamburg und Lissabon. Lange Jahre wissenschaftlicher Assistent von Hans-Peter Schwarz an der Universität Köln. Seit 1967 Mitarbeiter verschiedener Radiosender: NDR, WDR, Deutschlandfunk, Deutsche Welle, Radio Namibia, Radio Portugal.

Auszeichnungen: Medienpreis des Ostdeutschen Kulturrates, Kulturpreis für Publizistik der Landsmannschaft Ostpreußen

Sendungen: "Hintergrund Politik" (täglich 18.40, DLF), "Podium" (täglich 7.50, DLF), "DLF-Magazin" (Do. 19.15, DLF), "Politische Literatur" (Mo. 19.15, DLF), "Alte und neue Heimat" (So. 9.20, WDR)

Veröffentlichungen: "Handbuch der deutschen Außenpolitik", hrsg. von Hans-Peter Schwarz (Piper, 1975); "Namibia im Ost-West-Konflikt" (Verlag Wissenschaft und Publizistik, 1983); "Griff nach der deutschen Geschichte. Erbaneignung und Traditionspflege in der DDR" (Schöningh, 1988)

 

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