© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Rußlands neue Größe
Vor dem Deutschland-Besuch Putins: Schröders Ostpolitik auf dem Prüfstand
Carl Gustaf Ströhm

Die "baltische Frage" hat in der deutschen Außenpolitik des 20. Jahrhunderts eine nicht immer erfreuliche Rolle gespielt. Die sogenannten "Ostseeprovinzen" waren schon zu Kaisers und des Zaren Zeiten ein Spielball der jeweils deutsch-russischen Beziehungen. Von Hitler 1939 an Stalin verraten, im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht besetzt und als "Reichskommissariat Ostland" vom Dritten Reich bewußt in der Schwebe gehalten, dann von den Sowjets erneut erobert – kaum ein Bewohner des Baltikums fühlte sich damals befreit – waren sie nach einem ersten grausamen Zwischenspiel 1940/41 erneut brutaler Sowjetisierung, Ent-Nationalisierung und Deportationen ausgesetzt.

Jetzt ist erstmals nach der wiedererrungenen Unabhängigkeit ein deutscher Bundeskanzler zu einem offiziellen Besuch in die drei baltischen Staaten gereist – spät kam er, doch er kam. Bundeskanzler Schröder fand anerkennende Worte für die Esten, ermutigende Erklärungen für die Letten und Litauer. Er sprach als erster ausländischer Regierungschef vor dem Parlament von Tallinn/Reval und küßte der lettischen Staatspräsidentin Vaira Vike-Fraiberga brav die Hand.

Solche Gesten und andere Artigkeiten änderten nichts an der Tatsache, daß die drei baltischen Republiken das Erscheinen des deutschen Gastes zwar lebhaft begrüßten, andererseits aber doch Gegensätze in der Einschätzung der geostrategischen Lage des Ostseeraums zu spüren bekamen. So erklärte Schröder noch bei Reisebeginn, er sehe keine militärische Gefahr oder Bedrohung für die drei Baltenstaaten. Hier kann man sich schwerlich vorstellen, daß seine Gastgeber mit ihm übereinstimmten. Die lettische Präsidentin hatte erst vor wenigen Tagen von einer möglichen Bedrohung durch Rußland gesprochen – was in Moskau wütende Reaktionen und erneute Beschuldigungen auslöste. Schröder suchte allen Schärfen und Konfrontationen während seiner Baltikum-Exkursion zu entgehen – was einesteils verständlich ist, andererseits aber die Gefahr in sich birgt, daß sich die deutsche Außenpolitik in menschenfreundlichen Platitüden ergeht und – frei nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf – die sich zuspitzenden Probleme nicht zur Kenntnis nimmt.

In Reval und Riga betonte Schröder die Notwendigkeit einer strategischen Partnerschaft mit Rußland und die unumgängliche Einbindung Rußlands in die europäische Sicherheitsstruktur. Während er aber die Aufnahme Estlands und – mit gewissem Abstand – auch Lettlands und Litauens in die Europäische Union begrüßte, blieb er in der Frage eines NATO-Beitritts der Balten ambivalent, nichtssagend (oder war es doch vielsagend?) und unverbindlich. Die mögliche Bedrohung Estlands, Lettlands und Litauens als eine "theoretische Frage" zu bezeichnen, wie es Schröder in Riga getan hat, zeigt ein gewisses Unverständnis für geschichtliche Gegebenheiten und für die geographische Situation der drei Länder. Man sollte den Teufel nicht an die Wand malen, aber ein Szenarium, bei dem russische Elitetruppen (für Estland würden zwei Fallschirmjägerdivisionen genügen) plötzlich ihren angeblich unterdrückten russischen Landsleuten zu Hilfe kommen, ist nicht gar so abwegig. Was täte der Westen, wenn die Russen plötzlich Appetit auf eine Widerherstellung ihrer Kontrolle über die Südküste des Finnischen Meerbusens bekommen sollten?

Wie schon einige deutsche Kanzler vor ihm, steht auch Schröder vor der Wahl, sich wegen dreier kleiner Staaten und Völker am Rande der Ostsee mit dem russischen Riesenreich zu verderben – oder aber die russische Politik zu schlucken, die im Endeffekt (hier unterscheidet sich Putin nicht von Jelzin) den baltischen Staaten einen Status verminderter Souveränität zuweist. Das russische Außenministerium befleißigt sich gegenüber Estland und Lettland eines Tons, der im Umgang mit anderen Staaten undenkbar wäre. Hebel ist dabei die russische Minderheit in den baltischen Staaten, über deren angebliche Diskriminierung Moskau lebhaft Klage führt. Zugleich aber wird vor allem gegen Esten und Letten von Moskau aus die "Faschismus-Keule" in Stellung gebracht.

Der Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik im Sinne Max Webers bei der Behandlung der baltischen Frage wurde besonders deutlich, wenn man die eher beschwichtigenden Worte Schröders in den drei Hauptstädten mit den Warnungen eines alten Herren vergleicht, der – im Gegensatz zum Kanzler – kein Blatt vor den Mund nimmt. Otto von Habsburg, langjähriger Europa-Abgeordneter der CSU (der von seiner Partei unsanft aufs Altenteil abgeschoben wurde, was bedeutet, daß es in Brüssel und Straßburg keinen wirklich brillanten politischen Analytiker bei den Christdemokraten mehr gibt), sprach von einer gegen Estland in Gang kommenden Hetze, die darauf gerichtet sei, den Beitritt baltischer Länder in die EU möglichst zu sabotieren. Habsburg warnte, die neue Politik Putins tue alles, um das Großrussische Reich Stalins wiederherzustellen. Die Politik Rußlands gegenüber den baltischen Staaten beweise, daß sich eine "größere internationale Krise abzeichne". Nur eine sofortige Aufnahme der Balten in die EU könne eine solche Entwicklung verhindern.

Für Sicherheitspartnerschaften und enge Kooperationen sind immer zwei Partner erforderlich. Was tun, wenn Rußland andere Wege geht? Was tun, wenn sich Rußland – entgegen Schröders Erwartungen – eben doch nicht in Europa einfügt, sondern stattdessen die Träume von einstiger Macht (und Beute) reaktiviert? Ein deutscher Kanzler und europäischer Staatsmann von Rang müßte zumindest andeuten, daß man nicht gewillt ist, sich erpressen zu lassen. Manchmal scheint es, als sitze vielen Deutschen – auch und gerade Politikern – die Furcht vor den unberechenbaren Russen geradezu in den Knochen. Im Gegensatz zu den Amerikanern findet kein prominenter Deutscher den Mut, den Russen ganz klar zu sagen, wo die Schmerzgrenze für ihre Politik erreicht ist. Vor allem sollte alles vermieden werden, den Russen das Gefühl der "Unentbehrlichkeit" zu geben – nach dem Motto: Ohne Rußland kein Frieden und keine Sicherheit in Europa. Das muß wie ein Blankoscheck für ein Hochschrauben der Forderungen wirken. Gerade das Baltikum sollte ein Beispiel dafür sein, daß die Einbeziehung Rußlands natürlich angenehmer ist, daß es aber andererseits auch ohne Rußland geht und die Welt darüber nicht zusammenbricht.

Im Baltikum wird sich zeigen, ob Rußland fähig ist, als "Staat unter Staaten" zu existieren und seine Rolle zu akzeptieren – oder ob es zu neuen imperialen Tendenzen im Osten kommt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen