© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Putin und die deutsche Karte
von Alexander Rahr

Den etwa 200 Zuhörern im Saal der Villa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in der Rauchstraße war das Lachen vergangen. Es war Mitte Februar, der neue Mann im Kreml hatte nun auch der russischen Außenpolitik seinen Stempel aufgedrückt. Vor dem auserlesenen Berliner Publikum sprach der neue Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Dmitrij Rogozin. Es war kein versöhnlicher Ton, den der großgewachsene junge Mann einschlug. Selbstbewußt las der neue mächtige Entscheidungsträger im Umfeld Putins bei seinem ersten Auslandsbesuch in der neuen Funktion dem Westen die Leviten: "Rußland möchte kooperieren, aber sich nicht alles gefallen lassen!" tönte der 38jährige Rogozin. Und er zählte die Fehler des Westens Punkt für Punkt auf. Aggression gegen Jugoslawien unter Verletzung internationaler Rechtsstaatlichkeit: Der UNO-Sicherheitsrat, in dem Rußland eine Vetomacht ist, wurde ausgehebelt. Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag: Damit versuche Washington, sich gegenüber Interkontinentalraketen vermeintlicher Aggressoren zu schützen, in Wirklichkeit aber das jahrzehntelang bestehende Gleichgewicht der "Verwundbarkeit" zwischen den beiden Atomweltmächten zu seinen Gunsten zu verändern. Nichtratifizierung des Atomteststopvertrages im amerikanischen Kongreß: Damit gefährde Washington das Nichtverbreitungsregime für Massenvernichtungswaffen. Verurteilung Rußlands im Tschetschenienkrieg: Der Westen wäre sich über die Greueltaten der tschetschenischen Kämpfer nicht im klaren, Rußland hätte das Recht, sein Territorium gewaltsam zu verteidigen. (…)

Rogozin war am Ende seiner Rede angekommen. Sein Ton wurde sanfter: "Präsident Putin hat ein besonderes Verhältnis zu eurem Land!" Botschafter Immo Stabreit, ein rußlanderfahrener Diplomat, der die Sitzung leitete, horchte auf. "Jetzt kommt die deutsche Karte", flüsterte jemand. Rogozin, Jastrschembskij – das waren die neuen jungen Gesichter der russischen Außenpolitik. Sie hatten ein selbstsicheres Auftreten, waren von ihrer Überzeugung her Antikommunisten, sprachen mehrere Fremdsprachen, sahen äußerlich aus wie Westler, machten jedes Jahr Urlaub am Mittelmeer, kannten die westliche Mentalität und das westliche Wertesystem. Hätte es den Tschetschenienkrieg nicht gegeben, man könnte diese neue Politikergeneration in die Arme schließen. Was den Westen allerdings an der neuen Politikergeneration Putins irritierte, waren ihre russischen Großmachtambitionen. Für sie stand ein starker Staat an erster, Demokratie an zweiter Stelle. In der Außenpolitik wollten sie als gleichwertige Partner akzeptiert werden; sie waren davon überzeugt, daß man den Faktor Rußland in der Weltpolitik niemals würde umgehen können. Eine Weltpolitik ohne Rußland war für sie völlig absurd und undenkbar. Was die neue junge Führungsschicht Rußlands von den westlichen Eliten unterschied, waren völlig andere historische Erfahrungen und divergierende Ansichten über die Spielregeln der internationalen Politik im Zeitalter der Globalisierung. Die neue Putin-Generation demonstrierte offen ihren Patriotismus, den viele im Westen als ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts bezeichneten. Der bekannte außenpolitische Kommentator Alexej Puschkow brachte es Ende Januar 2000 am Rande der ersten Sitzung des EU-Rußland-Forums in Berlin auf den Punkt: "Wir werden zusammengehalten vom Gefühl, eine Großmacht zu sein, wenn man uns dieses Gefühls beraubt, verlieren wir die uns vereinigende Idee." Und Alexander Solschenitsyn ermahnt den Westen seit drei Jahrzehnten, doch endlich zu verstehen, daß Rußlands Transformation vom Kommunismus zu einem modernen Staat nur durch eine Rückorientierung auf die traditionellen russischen Werte des 19. Jahrhunderts erfolgreich verlaufen kann. (…)

Die Diskussion zeigte auf: Rußland und der Westen hatten ein Wahrnehmungsproblem. Nach Beendigung des kalten Krieges war auf der Grundlage westlicher demokratischer Werte zunächst eine neue Weltordnung entstanden, zu der sich anfangs auch das postsowjetische Rußland hingezogen fühlte. Nach dem gescheiterten Augustputsch und der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 suchte Rußland unter Jelzin den Anschluß an die westlichen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Strukturen. Das neue demokratische Rußland war bereit, sein kommunistisches Erbe abzuschütteln und westliche Spielregeln in der internationalen Politik zu akzeptieren in der Hoffnung auf westliche Hilfe für die schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Die Kooperation zwischen den Hauptrivalen des kalten Krieges entwickelte sich zunächst außerordentlich positiv. Doch schon Mitte der neunziger Jahre war die "romantische Annäherungsphase" zwischen Rußland und dem Westen zu Ende. Rußland wurde in einen grausamen Krieg in Tschetschenien verwickelt und dafür im Westen hart kritisiert. Der Westen weitete die NATO nach Osten aus – und stieß dabei auf harten Widerstand Moskaus. Rußland überdachte seine Beziehungen zum Westen und nahm Abstand von der anfänglichen Strategie einer raschen Integration in die demokratische Staatengemeinschaft.

Rußlands Probleme liegen heute darin, daß es, anders als Polen, Ungarn oder Tschechien, drei Transformationsprozesse gleichzeitig durchlaufen muß. Nicht der Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft, sondern der Prozeß der Dekolonisierung macht Rußland am meisten zu schaffen, denn hier liegt Moskau in immer schärfer werdender Kollision mit dem Westen. Der Westen will ein demokratisches und marktwirtschaftliches Rußland zum Partner haben, aber keine dominierende Großmacht. Deshalb fordert die westliche Gemeinschaft den Kreml ständig zur Abkehr von zentralistischem Staatsaufbau und Großmachtdenken auf. Die russische Herrschaftselite ist überzeugt, daß jegliche weitere Föderalisierung des Staates den Separatismus, wie den gewalttätigen in Tschetschenien oder den subtileren in Tatarstan, anheizen könnte. Während in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein Großteil der Bevölkerung noch befürchtete, daß der Tschetschenienkrieg 1994 bis 1996 das demokratische Fundament des jungen russischen Staates erschüttern konnte, unterstützte sie den zweiten Tschetschenienkrieg in dem Glauben, daß nun die Einheit des Staates auf dem Spiel stand. (…)

Spätestens im Verlauf des Kosovokrieges verstand Rußland, daß es seine Großmachtansprüche nicht gegen die Interessen des Westens durchsetzen konnte. Um sich in die Weltgemeinschaft zu integrieren, mußte sich Rußland internationalen Verhaltensregeln der westlichen Zivilisation unterordnen. In den letzten Jahren griff der Westen – hauptsächlich die Führungsmacht USA – oft in den politischen Entwicklungsprozeß ein, um Moskau im Fahrwasser der Westöffnung zu halten. Im März 1997 versprach US-Präsident Clinton seinem Kollegen Jelzin in Helsinki, sich für die vollständige Integration Rußlands in die G-7 und die WTO einzusetzen, falls dieser die erste Runde der NATO-Osterweiterung akzeptieren würde. Zwei Jahre später schaffte es der Westen im Kosovokrieg wieder, das polternde und drohende Rußland in die westliche Balkanstrategie einzubinden. Schließlich gelang es westlichen Regierungschefs auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999, trotz des Tschetschenienkrieges die Kluft zwischen dem Kreml und dem Westen nicht größer werden zu lassen.

Damals ließ sich Jelzin jedesmal einbinden; Rußland schlitterte nicht in eine antiwestliche Konfrontation. Der ehemalige russische Präsident hielt instinktiv an dem 1988 von Gorbatschow eingeschlagenen Kurs der Westanbindung Rußlands fest, wohl wissend, daß Rußland langfristig ohne westliche Hilfe seine Wirtschaftsreformen nicht zu Ende führen konnte. Doch die russische Außenpolitik gegenüber dem Westen änderte sich trotzdem. Um dem immer stärker werdenden amerikanischen Führungsanspruch in der Weltpolitik zu trotzen und die Entwicklung zu einer unilateralen Weltordnung zu verhindern, entschloß sich die russische Herrschaftselite, alle Kräfte zu mobilisieren, um Rußland wieder zu einer Großmacht – zu einem Gegenpol der USA – zu machen. (…)

Eigentlich sieht auch Putin zur pragmatischen Kooperation mit dem Westen keine Alternative. Allerdings versucht er ein neues Strategiekonzept zu entwickeln, mit dem das Land so in die Weltwirtschaft und die internationale Staatengemeinschaft integriert werden könnte, daß Rußland seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen besser wahren könnte. Offensichtlich betrachtet die neue Führung die bisherige Fixierung auf die USA als strategischen Fehler, da gerade die USA in den letzten Jahren alles getan haben, um ein Wiedererstarken ihres ehemaligen Rivalen auf der weltpolitischen Bühne zu verhindern.

Putin begutachtet die Weltpolitik heute noch mit den Augen eines Geheimdienstagenten. In seiner Autobiographie schilderte er ausführlich, wie der radikale Islam versucht, sich vom Nahen und Mittleren Osten her auf das südliche Gebiet der GUS auszubreiten und – über die Eroberung des Nordkaukasus – auch in Richtung des Wolgabeckens zu orientieren. Entlang der Wolga, wo sich die wichtigsten russischen strategischen Ölreserven befinden, lebt der Großteil der russischen-islamischen Bevölkerung – in Tatarstan und Baschkyrtostan. Wenn extremistische islamische Kräfte diese Gegenden unter ihren Einfluß bringen und bis zum Ural vorstoßen würden, wäre – so Putin – eine Aufspaltung Rußlands in einen europäischen und einen asiatischen Teil besiegelt. Rußland würde seine Staatlichkeit verlieren. Von großer Bedeutung für Europa wird es sein, wie Putin künftig sein Verhältnis zum Islam definiert. Der Vielvölkerstaat Rußland kann sich eine Ausweitung des Konfliktes mit dem Islam wie in Tschetschenien nicht leisten. Man weiß aus der Geschichte, wie gefährlich solche Entwicklungen werden können. Schon die unterschiedlichen Auffassungen zum Kosovokonflikt im Vielvölkerstaat Rußland, wo die muslimische Bevölkerung an der Seite der Kosovoalbaner stand und die russische Bevölkerung an der Seite der Serben, haben gezeigt, daß hier viel Sprengstoff lagert.

Ähnlich wie bei seinem innenpolitischen Lavieren zwischen Kommunisten und Demokraten, autoritären und liberalen Ideen, der Einführung der Staatskontrolle und gleichzeitigen Stärkung des privaten Sektors, verfuhr der neue Präsident zunächst auch in der Außenpolitik. Solange er seine Macht im Innern nicht konsolidiert hatte, wollte er es allen recht machen. Einerseits versprach er der westlichen Wirtschaft ein neues Paradies auf dem russischen Markt. Damit gewann er die deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Unternehmer als wichtige politische Verbündete im Bemühen, die westlichen Regierungen rußlandfreundlich zu stimmen. Den westlichen Regierungen suggerierte er seine Bereitschaft, über eine russische Mitgliedschaft in der NATO nachzudenken. Andererseits nährte Putin durch seine ständige Anlehnung an das Militär die russischen Großmachtambitionen. Das einzige wirkliche Großmachtattribut – die Atomwaffen – sollte als ein rhetorisches Druckmittel gegenüber dem Westen im politischen Handwerkskasten des Präsidenten immer "griffbereit" liegen.

Die Wiederherstellung militärischer Größe wurde zur Priorität der Politik Putins erklärt, die Streitkräfte wurden sein Hätschelkind. Eine russische Journalistin bemerkte: "Putin hat in den letzten Wochen alles nachgeholt, was er früher in der Armee verpaßt hat, weil er keinen Wehrdienst ableisten mußte. Er ist im Jagdflieger geflogen, er tauchte mit einem russischen U-Boot in die Tiefe, er übernachtete in der Kapitänskajüte auf einem Flugzeugträger, er zündete eigenhändig eine Kurzstreckenrakete für einen Testabschuß – nur in den Weltraum ist er noch nicht geflogen." Noch als amtierender Präsident hob Putin den Verteidigungshaushalt und das militärische Beschaffungsprogramm für neue Waffensysteme um jeweils 50 Prozent an. Einige Rußlandexperten sprachen daraufhin von einer schleichenden Militarisierung der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Andere Beobachter verwiesen aber darauf, daß Putin den unter Jelzin praktisch brachliegenden hochtechnologischen Rüstungssektor nicht quantitativ, sondern qualitativ zum neuen Motor der Gesundung der gesamten russischen Industrieproduktion machen wolle.

Ein strategisch wichtiger Partner für Rußland bleibt natürlich die Europäische Union. Als Reaktion auf die von der EU jetzt verwirklichte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) möchte Rußland bei der Festlegung einer neuen EU-Verteidigungsidentität nicht abseits stehen. Moskau befürchtet, nach der NATO-Osterweiterung und der Stärkung transatlantischer Strukturen auf dem Balkan und im Kaspischen Raum nun auch von den Integrationsprozessen innerhalb der EU isoliert zu werden. Die russische Führung hat Westeuropa das Angebot des Aufbaus eines paneuropäischen kollektiven Sicherheitssystems auf der Basis einer Kooperation Rußland/WEU unterbreitet. Die neue russische EU-Strategie sieht eine verstärkte wirtschaftliche Hinwendung Rußlands zu Westeuropa vor. Europäische Energiegesellschaften sollen durch lukrative Konzessionen auf den russischen Markt gelockt werden, der Euro soll den Dollar als ausländische Währungsreserve ersetzen. Rußland offeriert der EU die Zusammenarbeit beim Aufbau eines paneuropäischen Transportnetzwerkes und gemeinsamer Öl- und Gaspipelines. Rußland befürchtet, durch die gegenwärtige Errichtung der eurasischen Transport- und Kommunikationskorridore durch den Kaspischen Raum von wichtigen Handelsströmen abgeschnitten zu werden. Weitere Angebote Rußlands an die EU beinhalten die Schaffung eines globalen Navigations- und Informationsraumes und eine verstärkte Zusammenarbeit im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Schließlich verspricht Rußland, seine Wirtschaftsreformen stärker auf das Modell der sozialen Marktwirtschaft führender EU-Staaten auszurichten, was als Abgrenzung vom liberal-wirtschaftlichen Modell der USA verstanden werden soll.

Nach Kosovo und der westlichen Kritik am russischen Krieg in Tschetschenien sowie nach dem Finanzkrach vom August 1998, der das Fundament zerstörte, auf dem die liberale Marktwirtschaftspolitik der neunziger Jahre basiert hatte, genießt der Westen in Rußland den niedrigsten Stellenwert der letzten zehn Jahre. Die Elite und Gesellschaft, geblendet von kurzfristigen Wirtschaftserfolgen (die Inlandsproduktion zeigte 1999 wieder positive Wachstumsraten), glaubt in Zukunft die lästigen finanziellen Abhängigkeiten vom Westen abschütteln und Rußland in das Fahrwasser einer Politik des "konstruktiven Isolationismus" oder "pragmatischen Realismus" steuern zu können. Das bedeutet im Klartext: Putin wird versuchen, Rußlands Abhängigkeiten vom Westen zu verringern, was partnerschaftliche Kooperation in bestimmten Bereichen nicht ausschließt. Rußland will in den Bereichen mit dem Westen kooperieren, wo es für sich Vorteile erzielen kann. Moskau möchte allerdings in den Bereichen, wo es hinsichtlich seiner nationalen Interessen der Großmachtwerdung Abstriche machen muß, von einer Partnerschaft mit dem Westen künftig absehen.

In Deutschland hat so mancher mit Putins Machtübernahme Hoffnungen auf eine verstärkte Annäherung zwischen Deutschland und Rußland verknüpft. Nach alldem, was man über den neuen Präsidenten weiß, ist er in höchsten Maßen germanophil, wobei sein Deutschlandbild scheinbar von einem besonderen Romantizismus geprägt ist. Aus seiner Autobiographie geht hervor, daß er kein anderes Land so oft besucht hat wie das wiedervereinigte Deutschland. Putin kennt sich nicht nur in der deutschen Politik und in der Mentalität der deutschen Elite besser aus als so mancher seiner deutschlanderfahrenen Diplomaten. Putin hat die DDR und danach das wiedervereinigte Deutschland ausgiebig bis in die entlegensten Winkel privat bereist – wie vor 300 Jahren Peter der Große die Niederlande. Seine beiden Töchter haben eine deutsche Ausbildung genossen. Die Putins pflegen auch heute noch einen deutschen Freundeskreis.

Vor zwei Jahren sprach man davon, daß die deutsch-russischen Beziehungen wohl nie so gut und stabil gewesen wären wie unter Jelzin und Kohl. Deutschland wurde zum wichtigsten Anwalt Rußlands bei seiner Integration in die europäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen. Kein anderes Land hatte die russischen Reformen in den neunziger Jahren so massiv unterstützt wie Deutschland, kein anderes Land verfügte über so viele Firmenvertretungen in Rußland. BMW investierte in ein Automobilwerk in Kaliningrad, Ruhrgas kaufte fast fünf Prozent der "Gazprom"Aktien, und DaimlerChrysler errichtete ein großes Bürohaus in der Moskauer Innenstadt. Auch während der zahlreichen Staatskrisen zeigte Deutschland mehr Vertrauen und Verständnis für die notwendigen Kurskorrekturen an der Reformpolitik als andere G-7-Länder. (…)

Im Herbst 1998 kam in Deutschland die neue Schröder-Fischer-Regierung an die Macht. In den deutsch-russischen Beziehungen veränderte sich in der Hauptsache nicht viel, aber die Atmosphäre wurde doch ganz anders. Schröder setzte in seiner Rußlandpolitik nicht wie Vorgänger Kohl auf die "große historische Perspektive", sondern auf nüchternen Pragmatismus. Für den neuen Kanzler war Deutschland nun einmal der größte Gläubiger Rußlands. Als Schröder an die Macht kam, belief sich der russische Schuldenberg gegenüber dem Ausland auf 170 Milliarden US-Dollar, der nun über mehrere Generationen hinweg abbezahlt werden mußte. Auf Deutschland entfiel fast die Hälfte der gesamten russischen Kreditverbindlichkeiten. Schröder fragte sich, warum Rußland gerade in dieser Krise nicht auf die historischen Erfahrungen Deutschlands zurückgreifen wollte. Auch Deutschland befand sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einer vergleichbar schwierigen wirtschaftlichen Situation. Die deutsche Wirtschaft war vor dem Krieg in hohem Maße vom Außenhandel abhängig; nach den Gebietsabtretungen im Osten – immerhin 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzungsfläche des vormaligen Deutschen Reiches – war die Gesundung der Volkswirtschaft ohne Außenhandel, d. h. ohne Teilnahme an der Weltwirtschaft unmöglich. Damals leisteten die USA, wie heute der IWF, an Deutschland und andere europäische Industrienationen bedeutende Finanzhilfe, verbunden mit der Auflage, daß diese Staaten sich dem Weltmarkt öffneten. Die USA gewährten Westeuropa zwischen 1948 und 1952 knapp 14 Milliarden US-Dollar Hilfe; nach heutiger Kaufkraft gerechnet entsprach dies ungefähr 80 Milliarden US-Dollar. In etwa ist dies die gleiche Summe, die das wiedervereinigte Deutschland Rußland an Finanzhilfe gewährt hat. Wann konnte die deutsche Wirtschaft endlich mit positiven Veränderungen auf dem russischen Markt rechnen? Die russische Seite spürte, daß unter dem neuen Kanzler die deutsch-russischen Beziehungen durch Rußlands Tilgungsschwierigkeiten erheblichen Belastungen ausgesetzt werden könnten. In der Person des neuen Bundeskanzlers fand Jelzin jedenfalls keinen neuen "Freund Gerhard". (…)

Im September 1999 zog die Bundesregierung nach Berlin um. Die Bundeshauptstadt näherte sich Moskau um 600 Kilometer. In den Folgemonaten nahmen die Reiseaktivitäten russischer Politiker zu. Der Kommunistenführer Gennadij Zjuganow sah es als seine Pflicht an, dem russischsprachigen Berliner Fernsehsender RTVD ein langes Interview zu geben. "In Berlin leben immerhin fast 100.000 Russen", erklärte er, "und viele von ihnen können bei den russischen Präsidentschaftswahlen abstimmen. Also mache ich hier Wahlkampf." Andere Politiker folgten Zjuganow nach Berlin, viele um hier für Putin den roten Teppich auszulegen. Gleichzeitig reisten andere Kremlboten nach London und Paris. Der ehemalige Chef der Präsidialadministration Jumaschew tauchte unerwartet beim englischen Premierminister Tony Blair auf. Dort soll er die Engländer auf Putin-Kurs gebracht haben. Einige russische Emissäre, wenn auch niederen Ranges, klopften zur gleichen Zeit bei den Franzosen mit der Botschaft an: "Paßt auf, die Deutschen wollen Putin einen Sonderweg anbieten! Ihr müßt ihnen zuvorkommen."

Doch es war der weiter fortschreitende Tschetschenienkrieg, der zunächst die Hoffnungen der Europäer auf einen Durchbruch in den Beziehungen zu Rußland zerstörte. Die Europäische Union hatte Putin im Januar Schonfrist gegeben, die Kritik am Tschetschenien-Feldzug eingedämmt – um dem neuen Mann im Kreml die Möglichkeit der Suche nach einer politischen Lösung zu geben. Am Tage nach der Wahl Putins zum Präsidenten bot die EU Rußland die Erneuerung der "strategischen Partnerschaft" an. Während die Schröder-Regierung weiterhin kühl auf Putins Machtübernahme reagierte, riß der englische Premier Blair die Initiative an sich. Wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen am 26. März verbrachten er und Putin zusammen mit ihren Gattinnen ein politisch-kulturelles Wochenende in Sankt Petersburg, wo sie sich gegenseitig das Du anboten. Und drei Wochen nach Putins Wahl – aber noch gut einen Monat vor der offiziellen Amtseinführung – lud Blair seinen neuen "Freund Wladimir" zu dessen ersten Staatsbesuch als russischer Präsident nach London ein.

Putin hatte die "deutsche Karte" schon gezückt. Seine Berater waren davon überzeugt, daß der neue Präsident seinen Antrittsbesuch nach Berlin machen würde. Doch nachdem die Bundesregierung den Moment verstreichen ließ, steckte Putin die Karte wieder ein – um sie bei einer passenderen Gelegenheit auszuspielen.

 

Alexander Rahr, 1959 in Taipeh geboren und in München aufgewachsen, ist Rußland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGASP) in Berlin. Bei seinem Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus seinem Buch "Wladimir Putin. Der ’Deutsche‘ im Kreml" (Universitas, München 2000), den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen.


 
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