© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Für Schwerhörige
Theater: "Verratenes Volk" von Einar Schleef
Gerd Sauer

Wer sagt‘s denn, Berlin hat einen Dichter wiederentdeckt, von dem im Zeitalter der Political Correctness nicht mehr die Rede sein dürfte. Edwin Erich Dwinger, in der Zeit des Dritten Reiches gewiß kein Gegner des Regimes, wurde im Deutschen Theater Berlin zu Gehör gebracht. Aber natürlich nicht Dwinger pur. Auszüge aus seinem Roman "Armee hinter Stacheldraht" wurden dramatisiert. Und fast ebenso natürlich wurde sein Name im Stücktitel nicht erwähnt.

Einar Schleef, der Monumental-Regisseur im deutschen Theaterbetrieb, hat sich wieder zu Wort gemeldet. Und das fünfeinhalb Stunden lang. "Verratenes Volk", damit sind wir alle gemeint, und so ist dann auch der Titel der Collage, die er am Deutschen Theater in der Reinhardtstraße vorstellte. Darin eingebaut Auszüge aus Texten unter anderem von Alfred Doblin ("November 1918"), Friedrich Nietzsche ("Ecce Homo") und John Milton ("Das verlorene Paradies").

Es ist ein mitunter mühseliger Abend. Ein Abend auch, der in eindrucksvollen Bildern einen Teil deutscher Geschichte nicht immer leicht verständlich Revue passieren läßt. Längst nicht alles paßt zusammen, was Regisseur Schleef da an Texten zusammenpreßt. Aber nach spätestens vier Stunden fällt das kaum noch jemandem auf. Ab dann ärgern sich die meisten wohl hauptsächlich über die Länge dieses Theaterabends. Aber Schleef, der unter anderen Texte von Rolf Hochhuth und Elfriede Jelinek zugrunde richtete (was im jeweiligen Fall nicht zu bedauern war), um auf den Stücktrümmern sehr eigene, sehr laute und sehr lange Spielvorlagen zu errichten, hat die Endzeit des Kaiserreichs im Visier gehabt. Und hat dafür dem Deutschen Theater keine Kosten und Mühen gespart. Selbst fünfzig Damen und Herren vom Chor der Berliner Staatsoper wurden aufgeboten, um zahlreiche revolutionäre Lieder zu schmettern. Teile des Dwinger-Stücks kamen rechtzeitig zu Gehör, am Beginn des Abends, als das Publikum noch in Zuhör-Laune war.

Der Roman von Dwinger spielt 1915. Junge Männer, zum Teil erst siebzehn Jahre alt, in russischer Gefangenschaft. Dwinger hat das elende Leiden schonungslos in Worte ge-faßt, die Soldaten krepieren wie die Fliegen, andere schreien nach der Mutter, wieder andere phantasieren vor sich hin. Ein Chor von Soldaten brüllt diesen Text – Schleef sorgt immer für Lautstärke. Nicht immer ist das passend, hier aber kommt der expressive Text um so eindrucksoller über die Rampe.

Nicht alles an diesem langen Abend ist derartig beeindruckend. Jutta Hoffmann etwa darf allzu lange als Rosa Luxemburg räsonnieren, die fast den gesamten Ersten Weltkrieg im Knast verbrachte. Sie spricht das mit Worten von Döblin, auf einer Badewanne sitzend. Schwung hat dagegen der Nietzsche-Text, von Schleef selbst vorgetragen. Und auch das die meiste Zeit brüllend, nach- dem Inge Keller bedachtsam und ruhig Ausschnitte von Miltons "Verlorenem Paradies" vorgelesen hatte. Schleef läßt viel in gleicher Tonlage reden, beziehungsweise schreien, das bereitet den Zuhörern gelegentlich Pein, vor allem, wenn schier endlose Berichte über die Revolutionswirren in Berlin auf diese Art vorgetragen werden. Manche Bilder sind dagegen frappant. Eine rote Fahne wird vom Schnürboden herabgeworfen. Die Hoffmann als Luxemburg stellt sich neben sie, gewandet wie Jeanne d‘Arc.

So gekonnt solche und ähnliche Momente sind, so langwierig gerät die Stückcollage am Ende des Abends. Manche Zuschauer machen lautstark ihrem Unmut Luft. Wahrscheinlich täten das auch einige politisch besonders korrekte Menschen, wenn sie wüßten, was für ein in ihren Augen unkorrekter Schriftsteller Dwinger war. Aber offensichtlich scheinen sie diesen Autor nicht zu erkennen. Dieser Unkenntnis wohl ist es zu verdanken, daß Dwinger ohne Proteste von außen an einem der großen deutschen Theater gespielt werden kann.

Der nächsten Aufführungen finden am 23., 24. und 25. Juni, jeweils um 19 Uhr, statt.


 
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