© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Tschetschenien ist nur der Anfang
Carl Gustaf Ströhm

Es war als weltgeschichtliche Premiere gedacht – und er-wies sich als ein "Milliarden-Dollar-Mißverständnis": Clintons Auftritt vor der russischen Duma. Die Reihen der Abgeordneten, die dem US-Präsidenten zuhörten, waren stark gelichtet – Kommunisten und Nationalisten blieben fern. Die Anwesenden machten steinerne Gesichter – bis auf einen höflichen Schlußapplaus.

Clinton hatte sich mit US-amerikanischer Naivität vor die Russen gestellt und die Vorzüge der neuen Weltordnung unter US-Führung geschildert: die Globalisierung und das Technologie-Zeitalter, das auch dem letzten Sibirier ermögliche, Teil der "Neuen Welt" zu sein. Im Kampf gegen den Terrorismus werde man die Russen einbeziehen und unterstützen. Der Präsident bezeichnete Rußland gar als Teil Europas – eine kühne Behauptung, denn zwei Drittel liegen in Asien.

Zwar nahm sich Clinton ein wenig zurück, indem er sagte, Rußland müsse ja nicht unbedingt alles gut finden, was westliche Staaten billigten und durchführten. Aber er ließ keinen Zweifel, daß die USA die Maßstäbe setzen, an die jeder sich zu halten hat. Genau hier hat er den offenliegenden Nerv des russischen Gemüts getroffen: den tiefsitzenden Komplex einer abgehalfterten Supermacht, die sich von ihrem einstigen Hauptrivalen herablassend auf die Schulter klopfen lassen muß.

Wenn Clinton die Russen ermunterte, gegen Mafia, Geldwäsche und kriminelle Machenschaften zu kämpfen – dann war die Reaktion des Durchschnittsrussen vorausschaubar: "Haben wir es nötig, uns von einem Amerikaner – und dazu noch von diesem Amerikaner – Lehren erteilen zu lassen?" Was als gutgemeinte "Lebenshilfe" gemeint war, kommt als Demütigung an. Daß die Amerikaner auf ihrem Raketenabwehrprogramm bestehen – hier mußte Clinton der Kongreß-Mehrheit folgen –, lag wie ein Schatten über seiner Begegnung mit Putin. Ihm wäre es nicht gut bekommen, bereits beim ersten Treffen mit seinem US-Gegenspieler ein Fiasko zu produzieren. Überhaupt zeigte sich der neue "starke Mann" Rußlands in der Begegnung mit den Amerikanern seltsam farblos. Man munkelt, Putins Tage könnten in ein, zwei Jahren gezählt sein.

Bisher hat Putin weder ein außen- noch ein innenpolitisches Programm. Wurde der neue Mann womöglich überschätzt? Clinton versuchte in Moskau jovial eine Art Gleichklang herzustellen: Euch Russen hat nicht gefallen, was wir im Kosovo getan haben – und uns gefällt nicht, was ihr in Tschetschenien tut. Fast schien es, Clinton wolle die künftigen russisch-amerikanischen Beziehungen auf dem Fundament von Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten aufbauen.

Amerikaner und Russen sind in einer Zwickmühle: Rußland soll groß, stark und selbstbewußt sein – aber nicht expansiv, und es soll sich vor allem nicht den US-Interessen entgegenstellen (Kaspisches Meer, Kaukasus). Und Amerika soll die Russen gewähren lassen, gleichzeitig aber seinen Anspruch auf weltweite Führung bewahren. Beides zusammen – geht nicht. Bleibt am Ende die Beteuerung Clintons, die USA und der Westen würden Rußlands territoriale Integrität respektieren. Da aber liegt der Hase im Pfeffer: Tschetschenien ist nur der Anfang. Schon hört man, daß die Russische Föderation in drei oder mehr Teile zerfallen könnte. Der Westen klammert sich an die "Einheit" Rußlands, so wie er sich an die nicht mehr zu haltende Einheit Jugoslawien klammerte. So hat Clinton in Moskau mehr Fragen aufgeworfen, als er gelöst hat.


 
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