© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/00 02. Juni 2000

 
Ein General sprang über die Klinge
Die Debatte um Aufgaben und Ausstattung der Bundeswehr hat ihr erstes Opfer gekostet
Paul Rosen

Die Diskussion über die Zukunft der Bundeswehr hat die erwartete Richtung genommen: Berlin debattiert über künftige Truppenstärken und über die Wehrpflicht. Eine Analyse der Bedrohungslage und ihrer Veränderung findet nicht statt. Die um den Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker versammelte Altherrenrunde schrieb in ihrem Abschiedsbericht nach einjähriger Kommissionsarbeit, Deutschland sei nur noch von Freunden umgeben, und auf überschaubare Zeit sei eine Änderung dieser Bedrohungslage nicht feststellbar. Wirklich nicht?

Man muß nur ein wenig Phantasie walten lassen. Überraschenderweise hat dies ein Jugendverband getan, dem man seit Jahrzehnten eigentlich das Prädikat
"größtenteils harmlos" anhängte: Die Junge Union machte sich in ihrem
niedersächischen Landesverband Gedanken, welche Richtung die sicherheitspolitische Zukunft nehmen könnte. Animiert durch den ein oder anderen Zeitungsartikel schrieben die mutigen Jungunionisten in ein Bundeswehr-Papier, wenn in einigen Jahrzehnten die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung spanisch spreche, könnten sich die Vereinigten Staaten von Europa abwenden und somit der von "Uncle Sam" gewährte Sicherheitsschirm wegfallen. Der offensichtliche Verstoß gegen die "political correctness" überstand die nächste Landesdelegiertenversammlung natürlich nicht, auf der die ach so gefährlichen Passagen des Entwurfs gestrichen wurden.

Auch die Weizsäcker-Kommission hatte sich natürlich ihre Gedanken gemacht. In einem Entwurf ihres Abschlußberichts von Ende März war die Beurteilung der Bedrohungslage noch wesentlich differenzierter ausgefallen. Von einem möglichen "Wiedererstarken Rußlands" war dort die Rede. Dazu hätte es jedoch nicht gepaßt, eine Verringerung der aktuellen Truppenstärke von derzeit 330.000 Mann auf künftig 240.000 Mann vorzuschlagen. Also strich die Kommission die mögliche Bedrohung aus dem Osten wieder aus ihrem Papier heraus – nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) hatte mit diesen Fragen ohnehin nichts im Sinn. Ihm ging es und geht es allein ums politische Überleben. Der Minister, der im Sommer des letzten Jahres – Rot-Grün dümpelte gerade in einer existenzbedrohenden Krise daher – als Reservekanzler für den vom Absturz bedrohten Gerhard Schröder galt, hatte erleben müssen, wie wechselhaft die politische Großwetterlage sein kann. Beim SPD-Parteitag im Dezember wurde er – nicht zuletzt wegen seiner ständigen Sticheleien gegen Schröder – von den Delegierten regelrecht abgestraft. Scharpings ständiges Wehklagen, die Bundeswehr sei nicht bündnisfähig, ihre Ausstattung hoffnungslos veraltet und er brauche mehr Geld, straften Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel jedoch mit dauerhafter Mißachtung ab.

Erst als Scharping klar wurde, daß er sich mit seinen Forderungen noch höheren Verteidigungsausgaben nicht durchsetzen würde, begann er sich mit einem Truppenabbau anzufreunden. Zwar hatte er die Weizsäcker-Kommission bereits vor über einem Jahr eingesetzt, doch machte Scharping durch zahlreiche Einschränkungen während der laufenden Arbeit bereits deutlich, daß er sich nicht an die vor der Veröffentlichung bereits scheibchenweise durchsickernden Kommissions-Empfehlungen zu halten gedenke. So kommentierte er den absehbaren weitgehenden Verzicht auf die Wehrpflicht, den die Kommission vorgeschlagen hatte, als nicht praktikabel. Von Weizsäcker wollte statt der heute 130.000 Wehrpflichtigen nur noch 30.000 (bei jeweils zehn Monaten). Ein Los- oder Auswahlverfahren hätte entschieden, wer noch zum "Bund" hätte gehen müssen. Die Klippe der Wehrgerechtigkeit umschiffte von Weizsäcker galant, indem er erklärte, die Gerechtigkeit sei nicht der einzige Faktor, sondern die Wehrpflicht müsse sich auch am Bedarf orientieren.

Daher setzte Scharping seinen Generalinspekteur Hans-Peter von Kirchbach ans Werk, der parallel zur Weizsäcker-Kommission einen eigenen Vorschlag zur künftigen Truppenstärke und Ausstattung der Bundeswehr unterbreiten sollte. Unter den Vorgaben des Ministers – Verringerung nur knapp unter 300.000 – kam von Kirchbach zum gewünschten Ergebnis: Die künftige Truppe sollte demnach noch 290.000 Mann zählen. Allen Kennern der Szene war klar, daß von Kirchbach genauso wie der Altpräsident für den Papierkorb geschrieben hatte. Scharping dachte nicht daran, sich an einen der beiden Vorschläge zu halten: Von Weizsäcker war zu radikal, von Kirchbachs Ideen mit der unveränderbaren Haushaltslage nicht in Einklang zu bringen.

Da sich Scharping zwischenzeitlich mit seinem Intimfeind Schröder wieder arrangiert hatte, schluckte er dessen haushaltspolitische Vorgaben nicht zuletzt deshalb, weil er sich angesichts seiner schwachen Position in der Partei keinen offenen Kampf mehr leisten kann: Die Bundeswehr bekommt nur zwei Milliarden zusätzlich aus dem Einzelplan 60 überschrieben, die dort bereits heute für Kosten der internationalen Einsätze, etwa in Bosnien, stehen. Da der Titel nicht vollständig für Auslandseinsätze gebraucht wird, kann Scharping auf diese Weise rund 700 Millionen Mark zusätzlich vereinnahmen, was ihm hilft, den unveränderbaren Sturzflug seiner Verteidigungsausgaben etwas abzumildern. Zu modernisieren ist die Ausstattung der Truppe damit aber kurzfristig nicht. Völlig ungeklärt ist etwa, wie das neue Transportflugzeug finanziert werden soll, das die uralte Transall ersetzen soll.

Mit diesen Etatvorgaben läßt sich aber keine Bundeswehr von knapp 300.000 Mann halten, wie von Kirchbach dies wollte. Der Generalinspekteur, der sich im Kampf gegen die Fluten an der Oder als "Held von der Oder" einen Namen gemacht hatte, scheiterte jedoch bei den Ränkespielen am Hofe des Ministers. Resigniert wollte er schon vor dem 23. Mai, als die Weizsäcker-Kommission ihren Bericht vorstellte, seinen Rücktritt einreichen. Scharping hielt den General hin, um ihn einen Tag nach Bekanntgabe des Kommissionsberichts zu feuern.

Zuvor hatte er schon Weizsäcker desavouiert, indem er bei der Übergabe des Berichts an den Kanzler die Zahlen der Kommission ablehnte und selbst eine Reduzierung um 100.000 Mann (Zivilbeschäftigte und Soldaten) ankündigte. Nach Scharpings bisher bekannten Plänen dürfte mittelfristig eine Bundeswehr herauskommen, die aus 270.000 Mann besteht, darunter 70.000 Wehrpflichtige. Die Wehrgerechtigkeit dürfte zu halten sein, weil die Bundeswehr ihre Sollstärke bei den Zeit- und Berufssoldaten schon heute nicht erreicht (rund 185.000 Mann). Das Defizit wird traditionell mit Wehrpflichtigen aufgefüllt, so daß zum Schluß etwa 90.000 Wehrpflichtige pro Jahr eingezogen werden dürften.

Von Kirchbach fehlte offenbar die Erfahrung auf der politischen Bühne. Er hätte sonst wissen müssen, daß Scharping ihn nur benutzte, bis er seine Schuldigkeit getan hatte. So verdienstvoll seine Arbeit als Truppenführer war, steht er andererseits jedoch in der Tradition der unpolitischen Offiziere. Sein Nachfolger Harald Kujat ist aus anderem Holze geschnitzt. Der gebürtige Westpreuße Kujat zählt schon seit dem Regierungswechsel zu den engsten Beratern Scharpings und dürfte geschickt genug agieren, um die Bundeswehr-Reform auf die lange Bank zu schieben, um nicht vor der nächsten Bundestagswahl in eine Debatte über zu schließende Standorte verwickelt zu werden.

Auch einer Analyse der Bedrohungslage dürfte die rot-grüne Koalition ausweichen – nicht zuletzt auch ausweichen können, weil sie von der Scheuklappen tragenden Unions-Opposition nicht dazu gezwungen wird. Somit ist das Mißlingen der Bundeswehr-Reform präjudiziert: Ein Land, das nicht weiß wohin es will, weiß auch nicht, was es mit seinen Streitkräften machen soll, wenn nicht "Europa" oder der mächtige Freund jenseits des Atlantiks die Richtung vorgeben.


 
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