© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Situationen totaler Entfremdung
Ausstellung: "Fotofeldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945" im Deutsch-Russischen Museum in Berlin
Doris Neujahr

Während das Reemtsma-Institut das Land mit einer Ausstellung in Aufruhr versetzt hat, deren zweifelhafter Wert sich in der Provokation erschöpft, wird im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst wissenschaftlich-museologische Kärrnerarbeit geleistet. Das Museum befindet sich in jenem ehemaligen Offiziersklub der Wehrmacht, wo am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht unterzeichnet wurde. Danach diente das Gebäude als Sitz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, ehe es 1967 von der sowjetischen Führung in ein Kapitulationsmuseum umgewandelt wurde. Dabei ging es weniger um die Darstellung und kritische Vergegenwärtigung geschichtlicher Tatsachen und Zusammenhänge, als vielmehr um eine propagandistische Bestätigung des heroischen Selbstbildes. 1994 wurde es von einem binationalen Trägerverein zum Deutsch-Russischen Museum umgestaltet. Seitdem widmet es sich den beidseitigen Beziehungen von Brest-Litowsk bis heute, wobei der Schwerpunkt weiterhin auf der Zeit des Zweiten Weltkriegs liegt. Eine breitgefächerte Dauerausstellung bildet das Rückgrat des Museums, das daneben Sonderausstellungen anbietet, deren Extrakt in hervorragenden Katalogen dokumentiert ist.

Die aktuelle Exposition ist dem Thema "Fotofeldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945" gewidmet, zu dem rund 400 Fotografien fast auschließlich von der Ostfront ausgewählt wurden. Die Organisatoren konnten aus einem reichen Fundus schöpfen, wurden die deutschen Soldaten seinerzeit doch ausdrücklich angespornt, unter Beachtung militärischer Vorschriften Fotos anzufertigen. Diese sollten als Quelle für die künftige Geschichtsschreibung der militärischen Kollektive dienen und so zum inneren Zusammenhalt und zur Herausbildung eines Gruppenbewußtseins beitragen – sogar Fotowettbewerbe wurden zu diesem Zweck veranstaltet. Vor allem aber waren sie als Brücke, als Verbindung zwischen Heimat und Front gedacht.

Die gezeigten Bilder sind in Sachgruppen gegliedert: Die unter dem Titel "Die eigene Welt" versammelten Fotos dokumentieren das Bestreben der Soldaten, gewohnte Formen des zivilen Lebens unter Frontbedingungen möglichst aufrechtzuerhalten. Die statischen Gruppenfotos mit dem Vorgesetzten im Mittelpunkt sind beispielsweise eine Fortsetzung der obligaten Familienfotografien. Ungewohnte Situationen, etwa das Zubereiten der Mahlzeiten, die traditionell dem weiblichen Rollenverständnis entsprachen, wurden mit ostentativem Humor bewältigt. Die privaten Schnappschüsse wurden, von Ausnahmen abgesehen, ohne größeren handwerklichen Ehrgeiz angefertigt. Sie lassen nur selten eindeutige Rückschlüsse auf zwischenmenschliche, gesellschaftliche oder militärische Zusammenhänge und Prozesse zu. Dieser Kontext wurde erst durch die Kommentare hergestellt, die zumeist auf der Rückseite der Fotos vermerkt wurden.

Die meisten Fotos drücken aber unausgesprochen das Bemühen aus, die Angehörigen zu Hause über die eigene Lage zu beruhigen und sich selber in einem Akt der Selbstüberredung der positiven Aspekte des unfreiwilligen Fronterlebnisses zu vergewissern. Die Fotos von Gefangenenkolonnen oder von zerstörtem Kriegsmaterial des Gegners spiegeln nicht so sehr den Stolz der Eroberer wider, sondern die Erleichterung darüber, daß sie als potentielle Gefahren für das eigene Leben ausgeschaltet sind.

Die meisten Soldaten hatten bis dahin keine größeren Reisen unternommen, selbst innerhalb Deutschlands nicht. Während Frankreich nach dem Waffenstillstand zum aufregenden touristischen Erlebnis werden konnte, brachte der Osten eine Art Kulturschock, der auf die ungeheuren Ausdehnungen des Landes, die extremen klimatischen Bedingungen und auf den Anblick einer vormodernen bäuerlichen Welt zurückging, in der die primitivsten hygienischen Bedürfnisse kaum zu befriedigen waren. Der Bruch zwischen heimischer und fremder Welt war buchstäblich körperlich spürbar und auch verbal festgemacht. Die Differenz in der Alltagskultur war eben nicht nur Propaganda, ihre bloße Benennung kann daher nicht per se als rassistisch bezeichnet werden. Der Rassismus lag erst darin, daß sie zum Beleg kultureller "Höher-" bzw. "Minderwertigkeit" herangezogen und aus ihr ein Herrschafts- und teilweise Vernichtungsanspruch abgeleitet wurde.

Inwieweit die Haltung der Soldaten mit der NS-Propaganda übereinstimmte, haben die Ausstellungsmacher aus Feldpostbriefen als "Speicher gesellschaftlicher Wissensbestände" herauszufiltern versucht. Dabei haben sie vielfach die Übernahme der NS-Terminologie in der Privatkorrespondenz festgestellt. Wieweit diese Zitate tatsächlich Rückschlüsse auf die innersten Überzeugungen zulassen, muß allerdings erst noch gründlich sondiert werden. Erstens ist an die Postzensur zu denken, die auch zu einer inneren Zensur führte. Zweitens waren die meisten Briefeschreiber nicht darin geübt, ausführlich über sich und ihre Situation zu refklektieren – über eine Situation zumal, deren Monstrosität sich im Grunde bis heute der Sprache entzieht. Auch deshalb griffen sie auf sprachliche Wendungen zurück, die ihnen die Propaganda anbot. Drittens ist zu bedenken, daß es sich für die meisten Soldaten um eine unentrinnbare Situation totaler Entfremdung und Sinnlosigkeit handelte, deren Strapazen psychologisch nur durch Scheinrationalisierungen zu ertragen waren. Auch dies könnte zur vordergründigen Identifizierung mit nationalsozialistischen Ideologemen und Propagandaformeln geführt haben.

Auf den Fotos findet sich häufig eine zoologische Perspektive, die durch entsprechende Kommentare verstärkt wird. Die Objekte werden aus dem Blickwinkel zivilisatorischer Überlegenheit betrachtet. Doch selbst hier wäre noch zu überprüfen, ob dieser Fotoblick der deutschen Soldaten sich tatsächlich so stark von jenem unterscheidet, den Touristen aus der nördlichen Wohlstandshemisphäre heute auf die Angehörigen exotischer Völker richten.

Daneben gibt es Bilder, auf denen sich die Blicke der Soldaten und der russischen Zivilisten in Augenhöhe begegnen, auf denen Kontakte von Mensch zu Mensch hergestellt sind. Es kommt vor, wenn auch selten, daß fotografierte Frauen Objekte erotischen Interesses sind und daß Soldaten mit ukrainischen oder russischen Frauen tanzen. Der Krieg schuf Notgemeinschaften, die sich allen Feindklischees, den überkommenen wie den nachträglichen, entziehen.

Es bietet sich an, die Fotoauswahl gedanklich in einen Zusammenhang mit Kriegsbüchern von Heinrich Böll oder Franz Fühmann – um ausdrücklich zwei "linke" Autoren zu nennen – zu stellen. Böll und Fühmann haben den deutschen Soldatenalltag aus eigener Erfahrung größenteils als eine Abfolge aus Warten, Langeweile, dem Empfinden von Sinnlosigkeit und Todesfurcht, aus unerträglichen Spannungen, Heimweh und immer wieder Warten beschrieben – und keinesfalls als Zeit der Wollust und ungehemmter Greuel!

Nach dieser kleinen Sonderausstellung bietet es sich an, auch die Dauerausstellung "Erinnerung an einen Krieg" zu besichtigen, die ein Panorama der deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten Weltkrieg bis heute entrollt. Mit großer Klarheit wird darin herausgestellt, daß bei der Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland die – nicht unbegründete – Furcht vor dem Bolschewismus und seinem aggressiven Machtanspruch eine große Rolle spielte. Es ist bemerkenswert, daß gerade in der Zeit, als Ernst Nolte von vielen Medien gezielt zur Unperson gemacht wurde, eine zentrale These Noltes als eine konzeptionelle Grundlage herangezogen wurde.

Um die Grausamkeit und Wirkung des Krieges von 1941 bis 1945 zu veranschaulichen, wird auch drastisches Bildmaterial ausgestellt. Allerdings spielt dabei die russische Kriegsführung im deutschen Osten eine zu geringe Rolle. Die Brandschatzung deutscher Städte und Dörfer, die Vergewaltigungen, Flucht, Vertreibung, Deportationen werden wohl erwähnt, aber gleichsam zwischen Tür und Angel abgehandelt. Einen Hinweis auf das ostpreußische Nemmersdorf, das am 21. Oktober 1944 als erster Ort diesseits der Reichsgrenzen von Rotarmisten eingenommen und seither zum Synonym des Schreckens wurde, sucht man vergebens.

Es ist wünschenswert und wichtig, auch diese Fakten mit gleicher Objektvität darzustellen. Erst dann können diese verdrängten Schrecken wirklich verarbeitet und ihre psychologische Blockade aufgehoben werden.

 

Die Ausstellung "Fotofeldpost" ist bis zum 12. Juni 2000 geöffnet. Der Katalog kostet 20 Mark. Der Katalog "Erinnerung an den Krieg" ist ebenfalls für 20 Mark erhältlich.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen