© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/00 26. Mai 2000

 
Washington diktierte das Drehbuch einer Farce
Kosovo-Krieg: Wie sich die deutsche Politik den USA auslieferte / Brigadegeneral erhebt schwere Vorwürfe gegen Verteidigungsminister
Michael Wiesberg

Ende März dieses Jahres machte der ehemalige Brigadegeneral der Bundeswehr und frühere OSZE-Beobachter Heinz Loquai von sich reden, als er Bundesverteidigungsminister Scharping bezichtigte, die Öffentlichkeit mit Falschinformationen über angebliche Vertreibungspläne der Serben getäuscht zu haben. Scharping wies Loquais Anschuldigungen zurück: Wer das sage, sei entweder "ahnungslos" oder "böswillig".

Jetzt hat der "ahnungslose" oder "böswillige" Brigadegeneral a.D. seine Anschuldigungen unter dem Titel: "Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg" (Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000), in substantiierter Form als Buch vorgelegt. Um es vorweg zu sagen: die Argumente und Fakten, die Loquai ausbreitet, reichen für eine Rücktrittsforderung an die Adresse des derzeitigen Bundesverteidigungsministers und Außenministers aus. Doch soll der Darstellung der Ereignisse, die zum Krieg führten, an dieser Stelle nicht allzuweit vorgegriffen werden.

Loquai behandelt in seinem Buch die Entwicklungsstadien des Bürgerkriegs im Kosovo in der Zeit von Ende 1997 bis März 1999. Dieser Zeitraum ist durch Eskalation des Bürgerkrieges im Kosovo geprägt, an dessen Ende die Nato-Luftangriffe stehen werden. Das erste entscheidende Ereignis auf dem Weg zum Krieg sind Loquai zufolge die Ende Februar 1998 ausbrechenden Gewalttätigkeiten in der Drenica-Region, einer "Hochburg der UÇK". Den Anlaß dieser Auseinandersetzungen bringt Loquai auch mit dem Besuch des amerikanischen Sonderbotschafters Gelbard am 23. Februar 1998 in Belgrad in Verbindung. Gelbards Position war unmißverständlich: die UÇK sei eine terroristische Organisation, das Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte sei Polizeigewalt. Belgrad mußte nach dem Besuch Gelbards davon ausgehen, daß das serbische Vorgehen im Kosovo international keinen Anstoß erregen würde.

Der Auslöser der Unruhen in der Drenica-Region sollte in den folgenden Monaten immer der gleiche bleiben: die UÇK hatte serbische Polizeieinheiten angegriffen und dabei vier Polizisten getötet. Die darauf folgenden Vergeltungsmaßnahmen der serbischen Polizei am 28. Februar 1998 kosteten etwa 100 Tote auf seiten der Kosovo-Albaner. Loquai läßt keinen Zweifel daran, daß das Vorgehen der Serben von unverhältnismäßiger Brutalität gekennzeichnet war. Es kamen Frauen, Kinder und alte Menschen um, was zu einer Solidarisierung der kosovo-albanischen Bevölkerung führte und internationale Sanktionen nach sich zog (UN-Resolution 1160/1998, in der die Gewaltanwendung der serbischen Polizei genau so verurteilt wird wie die terroristischen Aktionen der UÇK).

Die UÇK setzte im Gegenzug nach der serbischen Vergeltungsaktion die Kosovo-Serben mehr und mehr unter Druck. Loquai kommentiert: "Während bisher die beiden Volksgruppen an das Zusammen- und Nebeneinanderleben gewöhnt waren, eröffnet sich jetzt ein interethnischer Konflikt neben dem Konflikt zwischen dem Staatsapparat und der UÇK."

Insgesamt, so schlußfolgert Loquai, sei diese erste Phase des Bürgerkrieges erfolgreich für die UÇK verlaufen: Sie hatte sich in ihrem Kernland, der Drenica-Region, festgesetzt. Von hier aus konnte sie "weitere Regionen befreien". Weiter war die internationale Öffentlichkeit auf den Konflikt aufmerksam geworden. Und vor allem: Die Medien hatten das Thema "Kosovo" entdeckt.

Festzuhalten bleibt, daß die serbische Seite die Auflagen der UN-Resolution 1160 im großen und ganzen erfüllt hat. Die UÇK hingegen hatte ihre Aktivitäten weiter gesteigert. Die serbische Seite geriet deshalb in ein Dilemma, das Loquai skizziert: "Würden Polizei und Militär weiter in der Defensive bleiben, würde die UÇK ihre Kontrolle auf weitere vorwiegend albanisch besiedelte Gebiete ausdehnen (…) und den Kampf in die Städte hineintragen." Darüber hinaus hätte Belgrad bei einer derartigen Eskalation damit rechnen müssen, daß über kurz oder lang die Nato ins Geschehen eingreifen würde. Belgrad wählte in dieser Situation offensichtlich den Weg der Zerschlagung der UÇK. Die darauf folgenden Kämpfe erklärte Milosevic am 28. September 1998 für beendet. Die UÇK sei, so der jugoslawische Präsident, praktisch nicht mehr existent. Die Situation schien sich zu entspannen. Die Nato erhöhte jedoch gerade in dieser Phase erneut den Druck auf Belgrad. Am 13. Oktober wurde der Einsatzbefehl für Nato-Luftangriffe gegen Jugoslawien gegeben. Am selben Tag einigten sich der US-Diplomat Holbrooke und Milosevic auf eine internationale Kontrolle im Kosovo. Teil dieses Abkommens war der Rückzug von jugoslawischen Truppen und Sondereinheiten. Loquai stellt fest, daß sich Belgrad im wesentlichen an seine Verpflichtungen hielt. Im Gegensatz zur UÇK, die die geräumten Gebiete sofort wieder besetzte.

Es war vor diesem Hintergrund nur eine Frage der Zeit, wann die Kämpfe wieder aufflammen würden. Und die Kämpfe flammten wieder auf. Nur die Vorzeichen hatten sich aufgrund der Nato-Luftkriegsdrohung vollkommen verändert. Loquai kommentiert: "Auf die jugoslawische Armee und serbische Polizei wird sie mäßigend gewirkt haben, für die albanische Seite war diese Drohung Anreiz, durch eigene Aktionen Reaktionen der Serben auszulösen, die geeignet waren, die Luftangriffe herbeizuführen und das strategische Ziel, den Sieg im Bürgerkrieg, zu erreichen."

Als entscheidenden Wendepunkt in Richtung Krieg kennzeichnet Loquai das angebliche "Massaker" von Racak im Januar 1999. Auch im Falle von Racak gingen Überfälle der UÇK auf serbische Polizeieinheiten voraus. Die serbische Sicherheitskräfte starteten daraufhin eine Vergeltungsaktion, in deren Verlauf sie in ein Gefecht mit UÇK-Guerillas gerieten. Wieviele UÇK-Mitglieder bei diesem Gefecht ums Lebens kamen, ist bis heute unklar. Genauso unklar ist bis heute der wirkliche Ablauf der Ereignisse geblieben.

OSZE-Chef machte Serben für Massaker verantwortlich

Am darauffolgenden Tag traf der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, begleitet von 30 Journalisten, in Racak ein. Nach einer Ortsbesichtigung gab Walker in Pristina eine Pressekonferenz, in der er feststellte, daß es 45 Tote in Racak gegeben habe. Walker sprach von einem "Massaker" und einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und machte die jugoslawischen Sicherheitskräfte für dieses Massaker verantwortlich. Von serbischer Seite wurde Walker bezichtigt, Lügen in die Welt gesetzt zu haben und im Auftrag des CIA einen Vorwand für eine Nato-Intervention zu suchen.

Ergänzend sei auf einen Bericht der Sunday Times vom 12. März 2000 hingewiesen, den Loquai offensichtlich nicht kannte oder nicht mehr in sein Buch aufnehmen konnte. Dieser Bericht, verfaßt von Tom Walker und Aidan Laverty, ist mit "CIA unterstützte die Kosovo-Guerilla-Armee" übertitelt. Laut Sunday Times gaben Amerikaner, die in CIA-Aktiviäten verwickelt waren, zu, "die Kosovo-Befreiungsarmee mit ausgebildet zu haben". CIA-Offiziere, die 1998 und 1999 den Waffenstillstand überwachten, knüpften Beziehungen mit der UÇK an, gaben ihr amerikanische Ausbildungspläne und berieten sie militärisch, "wie man die jugoslawische Armee und serbische Polizei am besten bekämpfe". Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Dokumentation des britischen Senders BBC2 mit dem Titel "Moralische Kriegsführung: Die Nato im Krieg", der ebenfalls am 12. März ausgestrahlt wurde.

Wie gezielt die Amerikaner auf den Krieg zusteuerten, zeigt das Beispiel des mit hoher Sicherheit für die CIA tätigen US-Diplomaten Walker, der bereits zum Leiter der OSZE-Mission ernannt wurde, bevor dies vom Ständigen Rat der OSZE überhaupt beschlossen wurde. In einer Fußnote erläutert Loquai, wer diese Ernennung durchgesetzt hatte: US-Außenministerin Madeleine Albright.

Loquai stellt fest: "Es war kein Geheimnis, daß Missionschef Walker nicht so sehr Leiter der internationalen Mission war, sondern die amerikanische Kosovo-Politik durchzusetzen hatte und von Washington gesteuert wurde." Walkers Mission im Kosovo bestand darin, im Kosovo den casus belli zu schaffen. Daran kann heute kaum noch Zweifel bestehen. Das "Massaker" von Racak war aus Sicht der USA der gesuchte casus belli. Dazu Loquai: "Nach dem ’Massaker von Racak‘ wollten die Amerikaner sofort auf der Basis des noch gültigen ACTORD (Activation Order) mit der Bombardierung Jugoslawiens beginnen. Dabei erwarteten sie", so Loquai, "die Beteiligung der anderen Nato-Staaten, auch Deutschlands."

Diese Bombardierung sollte ohne eine objektive, unparteiische Untersuchung des "Massakers" von Racak erfolgen. Wie ein derartiges Vorgehen zu charakterisieren ist, spricht Loquai klipp und klar aus: als "internationale Lynchjustiz". Anders gewendet: Die USA hätten, wäre es nicht zu den Verhandlungen von Rambouillet gekommen, offenen Auges zu Wildwest-Methoden gegriffen. An diesem Verhalten läßt sich ablesen, was die USA von völkerrechlichen Normen halten.

Auf deutsche Initiative kam statt der "Lynchjustiz" der Verhandlungsprozeß von Rambouillet zustande. Die USA bestanden aber im Vorfeld auf der Gültigkeit von ACTORD. Diese sollte sofort angewendet werden, wenn der Verhandlungsprozeß gescheitert sei. Die deutsche Seite willigte ein und unterwarf sich dabei einer "politischen Nötigung". Loquai wörtlich: "Die deutsche Politik lieferte sich den USA aus. Die USA verzichteten zunächst auf einen Bestrafungskrieg für eine Tat, für die es noch kein objektes Urteil gab."

Eindrücklich fallen die Schilderungen Loquais zu den Verhandlungen von Rambouillet aus, die als Farce bezeichnet werden müssen. Die Serben blieb nur die Alternative: die Bedingungen, die ihnen vorgelegt worden sind, abzunicken – oder bombardiert zu werden. Loquai räumt gründlich mit der von deutschen Politikern vertretenen Version auf, die Verhandlungen seien gar nicht an dem berüchtigten "Annex B" (militärischer Implementierungsteil) gescheitert, weil über diesen gar nicht verhandelt worden sei. "Richtig ist", so Loquai, "daß die Serben eine ausländische Implementierungstruppe rundweg ablehnten. Deshalb haben sie es auch abgelehnt, über Durchführungsdetails einer militärische Implementierung zu verhandeln."

Die USA bestanden aber darauf, daß das Abkommen und die Implementierungselemente "als ein unauflösliches Paket" anzusehen sei, das zur gleichen Zeit verabschiedet werden müsse. Es wurde zunächst also nur über einen Teilentwurf verhandelt, der die Implementierungsteile nicht enthielt. "Diese", so Loquai, "wurden erst kurz vor Schluß der Verhandlungen auf den Tisch gelegt – ein sehr durchsichtiger Versuch einer Überrumpelungstaktik." Außenminister Fischers Version, es sei in Rambouillet nicht über eine Implementierungstruppe verhandelt worden, also seien die Verhandlungen wegen dieser auch nicht gescheitert, "widersprecht der Logik und den Tatsachen", stellt Loquai fest.

Wie ungleich die Bedingungen waren, zeigt folgende Einlassung Loquais: "Auf albanischer Seite arbeiteten englische und amerikanische Berater, die die Verhandlungsdokumente gut kannten. So schrieben diese Berater im Namen der Albaner Briefe an ihre Kollegen in der Kontaktgruppe und bei den Verhandlern."

Die USA richteten ihr Augenmerk auf die Albaner

Als sich das von den USA programmierte Scheitern der Verhandlungen abzeichnete, wurde das nächste Register gezogen. Loquai kommentiert: "Die überzogen positive Darstellung des Konferenzergebnisses muß man auch klar in ihrer Funktion als ein Mittel der Schuldzuweisung für das absehbare Scheitern sehen. So konnte der serbischen Seite dann leicht ein Zurückweichen hinter den angeblich bereits gefundenen Konsens vorgeworfen wurde."

Eine "taktische Meisterleistung" bescheinigt Loquai der kosovo-albanischen Verhandlungsdelegation: "Die späte Vertragsunterschrift in Paris (wo die Verhandlungen im Anschluß an Rambouillet weitergrführt wurden, d.V.) war eine taktische Meisterleistung. Durch eine frühzeitige Unterschrift in Rambouillet hätte man der Kontaktgruppe ja ein diplomatisches Druckmittel gegenüber der BRJ (Bundesrepublik Jugoslawien, d.V.) gegeben, den Vertrag ebenfalls zu unterschreiben. Doch gerade dies konnten die albanischen ‚Strategen‘ nicht wollen."

Die USA, so Loquai, richteten ihr Augenmerk zwischen Rambouillet und Paris vor allem auf die Albaner. Im Auftrag von Albright reiste der ehemalige Senator Bob Dole nach Pristina, um die UÇK-Vertreter persönlich nach Washington einzuladen. Loquai merkt an, daß Dole von der serbischen Seite nicht empfangen wurde, bleibt aber die Erklärung darüber schuldig, warum dies nicht geschah. Dole hatte sich in den USA einen Namen als lautstarker Verfechter albanischer Interessen gemacht. In Artikeln und TV-Auftritten, so die Zeitung Investor’s Business Daily vom 4. März 1999, habe Dole die UÇK verherrlicht und die Serben verleumdet. Dole reiste eigens in den Kosovo, um UÇK-Hardliner wie Adem Demaci, der die Verhandlungen von Rambouillet boykottierte, davon zu überzeugen, einer begrenzten Autonomie des Kosovo zuzustimmen. Im Gegenzug könnten dann die Serben gezwungen werden, Nato-Truppen in den Kosovo zu lassen, um das Abkommen zu überwachen (Reuters, 1. März 1999).

Wie die Verhandlungen von Rambouillet und später Paris bewertet werden müssen, hat der von Loquai zitierte Michael Mandelbaum in "Foreign Affairs" (Sept.-Okt. 1999) charakterisiert: "Geführt von der amerikanischen Außenministerin Madeleine K. Albright, lud die Nato die Serben und die UÇK in das französische Schloß Rambouillet vor, präsentierte ihnen einen detaillierten Plan für die politische Autonomie im Kosovo unter Nato-Schirmherrschaft, forderte beide auf, dem zuzustimmen und drohte mit militärischer Vergeltung, wenn einer von beiden sich weigerte. Die Amerikaner verhandelten darüber mit der UÇK, erhielten ihre Zustimmung zum Rambouillet-Plan, und als die Serben auf ihrer Weigerung beharrten, warteten die Amerikaner den Abzug der OSZE-Beobachter ab und begannen zu bomben."

Zu den vielen Verdiensten des Buches von Loquai gehört der Hinweis, daß beim Außenministertreffen in Luxemburg am 28. Mai 1998 ausgerechnet von der deutschen Seite der Vorschlag ins Spiel gebracht wurde, direkt im Kosovo zu intervenieren. Die USA zögerten zunächst, in diesem Konflikt zu intervenieren. Doch die Europäer, so Loquai, und hier insbesondere die Deutschen, "drängten die Amerikaner, sich vermehrt einzubringen.". Wolfgang Ischinger, damals noch in Diensten von Klaus Kinkel, wird mit den Worten zitiert: "Jetzt ist amerikanische Führungskraft gefragt." Letztlich war es wohl nur Frankreich, das sich immer wieder der von den USA vorangetriebenen Eskalationspolitik widersetzte. Am deutlichsten geschah dies auf der Sitzung des Nato-Rates am 30. Januar 1999: Frankreich wollte durchsetzen, so Loquai, daß die Balkan-Kontaktgruppe ein Votum abgeben sollte, bevor der Nato-Generalsekretär die Luftangriffe auslöste. Da fünf der Kontaktgruppenstaaten aber sowieso der Nato angehörten, ging es bei der französischen Forderung vor allem um die Mitwirkung Rußlands im Konsultationsprozeß. Gerade das aber hätten die Amerikaner vermeiden wollen.

Die USA konnten schließlich ihre Linie durchsetzen, weil Frankreich auf sich alleine gestellt war. Ernüchternd fällt Loquais Charakterisierung der deutschen Rolle aus: "Deutschland tat alles, um nicht in Konflikt mit den USA zu geraten." Den Deutschen sei es vor allem darum gegangen, in der Erklärung des Nato-Rats die "humanitäre Katastrophe", die Legitimationsgrundlage für den Einsatz deutscher Soldaten, zu verankern. Wie wir heute wissen, gelang dies.

Damit fällt der Fokus auf die deutsche Rolle auf dem Weg zum Kosovo-Krieg, die zu den deprimierendsten Kapiteln des Loquai-Buches gehört. Die angebliche "humanitäre Katastrophe" stand im Mittelpunkt der Argumentation der Bundesregierung bei der Entscheidung über die Teilnahme Deutschlands an einem möglichen Krieg im Kosovo am 16. Oktober 1998. (Noch-) Außenminister Kinkel begründete den Antrag der Bundesregierung: "Weil weiterhin eine humanitäre Katastrophe droht, muß die militärische Drohung der Nato aufrechterhalten bleiben." Der zukünftige Außenminister Fischer, der sich in der Opposition noch strikt gegen eine militärische Intervention ohne UN-Mandat ausgesprochen hatte, argumentierte: "Das Problem ist, daß von der Politik der Bundesrepublik Jugoslawien – von der Politik Milosevics – eine dauerhafte Kriegsgefahr in Europa ausgeht. Diese Kriegsgefahr können wir nicht akzeptieren, das ist der Punkt."

Auffallend, so Loquai, sei in dieser Bundestagsdebatte nicht nur der starke Trend zur Schuldzuweisung an eine einzige Konfliktpartei, sondern auch die "extreme Personalisierung in Gestalt des jugoslawischen Präsidenten Milosevic. Er galt bei den Grünen als der "boshafteste Despot in Europa" (Ludger Vollmer) bzw. als "Hauptkriegsverbrecher" (Beck und andere). Insgesamt bilanziert Loquai: "Die deutsche Politik setzte sich mit ihrer einseitigen Stellungnahme von den UN-Resolutionen ab, die auf Ausgewogenheit bedacht waren. Die neue (rot-grüne, d.V.) Regierung ermunterte die radikalen Kosovo-Albaner, sie provozierte die jugoslawische Führung." Dazu kommt ein weiteres: "Das (Bundestags-, d.V.) Plenum wurde von der Regierung unpräzise, lückenhaft und unzutreffend über die tatsächliche Lage im Kosovo informiert."

Das Verteidigungs- und das Außenministerium hielten diese Politik der Desinformation dem Bundestag gegenüber bis zum Ende des Krieges durch, so daß Loquai schlußfolgert: "Die im Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt vorhandenen zutreffenden Informationen über die tatsächliche Lage im Kosovo wurden dem Parlament vorenthalten. Deshalb konnte das Parlament gar nicht wirklich beurteilen, ob sich eine humanitäre Katastrophe anbahnte, die es abzuwenden galt."

Loquai weist Scharping eklatante Widersprüche nach

Loquai dürfte sich im klaren sein, daß die Argumente, die er hier vorträgt, geeignet sind, sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Außenminister den Rücktritt zu fordern. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund des "Hufeisenplans", der den angeblichen serbischen Willen zur Austreibung der Kosovo-Albaner dokumentieren soll. Die Widersprüche Scharpings, die Loquai diesem nachweist, sind so eklatant, daß er Scharping eindeutig der Unwahrheit überführt. Loquai wörtlich: Der Leiter der OSZE-Mission, Walker, "zündete mit seiner unbewiesenen Version von ’Racak‘ die Lunte zum Krieg gegen Jugoslawien. Scharping löschte mit dem ’Hufeisenplan‘ die Kritik an diesem Krieg." Dies tat er offensichtlich so nachhaltig, daß Matthias Rüb in der Beilage der FAZ vom 20. Mai dieses Jahres ("Bilder und Zeiten") immer noch behaupten kann: "Bis heute betreibt Milosevic Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. (…) Er denkt nur in totalitaristischen Kategorien von unterwürfigen Verbündeten und unversöhnlichen Todfeinden (…) In seiner Welt ist für Kompromisse kein Platz."

Rüb und mit ihm die überwaltigende Masse der Kommentatoren und Berichterstatter über den Kosovo in Deutschland haben ihre Lektion gelernt: Außerhalb der regierungsamtlichen Verlautbarungen gibt es und kann es keine Wahrheit geben.


 
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