© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Von der Neuen Linken lernen
von Werner Olles

Die Debatten über die Zukunft des Konservativismus in Deutschland reißen nicht ab. Allerdings kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, die Diskutanten hätten zwar die zur Aufnahme in das "diskursoffizielle Credosortiment" (Martin Walser) konservativer Theoriediskussionen korrekten Antworten und Rezepte parat, nur die richtigen Fragen seien womöglich gar nicht gestellt worden. Das mag u.a. auch daran liegen, daß zwar das politische Selbstbewußtsein in den diversen Zirkeln, Gesprächskreisen, Initiativen, "Bewegungen" und Kleinparteien ziemlich ausgeprägt ist, es aber dafür nicht nur an der Diskussionskultur, sondern vor allem an einer realistischen Einschätzung der politischen Lage der Konservativen mangelt. Ganz abgesehen davon scheint auch die Frage nach den grundsätzlichen politischen Intentionen der Neuen Rechten – nach den gescheiterten politischen Schauläufen der sogenannten "89er" – jenseits von "Antiliberalismus" und "Kulturpessimismus" klärungsbedürftig.

Während private konservative Treffs nach dem launigen Motto "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst" eher von surrealistischem Charme und hoffnungsschwacher bis heiterer Verbundenheit geprägt sind, haben sich die offiziellen Gesprächsrunden, deren vordringlichste Aufgabe es offenbar zu sein scheint, am laufenden Band neue "Bürgerbewegungen" und "Initiativen"aus dem Boden zu stampfen, längst den unheilbaren Virus eines selbstreferentiellen Simulationsprozesses eingefangen. Die Vorsitzenden fungieren als eine Art Kummerkasten und klammern sich mitsamt ihrer Gefolgschaft an Illusionen, die sie für ein Weltbild halten. Hier waltet ein merkwürdiges Mißverständnis: Der Glaube an die politische Mobilisierbarkeit eines erfolgreich umerzogenen Volkes, dem jede Identität ausgetrieben wurde.

Natürlich wähnt man sich hier als die letzte Garde der belagerten abendländischen Kultur, aber in Wahrheit regiert die selige Niedlichkeit eines ressentimentgeladenen, aktionistischen Kaffeekränzchens, dem es an jedweder Sensibilität für die existentiellen Dimensionen der Krise der Rechten mangelt. Und da man nicht einmal die äußeren, sichtbaren Spuren dieser Krise wahrnehmen will, ist selbst die Dramaturgie dieser "Bewegungen" vorhersehbar, die fortschreitende Eskalation der klassischen Extremforderungen sowieso. Von nun an absolviert die Gruppe stolpernd ihren aktivistischen Hürdenlauf, wirft ab und zu ein paar Hindernisse um und läßt sie desinteressiert liegen, kommt aber merkwürdigerweise doch nicht so recht vom Fleck. Die inzwischen bereits ziemlich frustierte Anhängerschaft bleibt ihr zwar halbwegs auf den Fersen, aber am Ende kommt dann der große Katzenjammer, weil man wieder einmal auf den Zug der ein bißchen ungezogenen Rechten aufgesprungen ist und sich dabei auch noch den Fuß verstaucht hat.

Sich von solchen Veranstaltungen fernzuhalten, ist weder Arroganz noch Snobismus, vielmehr ein Akt der Selbstbewahrung. Man spürt sehr schnell, woran es all diesen "Bewegungen" mangelt: Es fehlt ihnen das Pathos der Desorientierung, die Auflehnung gegen alle Konventionen, vor allem aber die elegische Grundierung. Gerade letztere ist jedoch als philosophische Selbstverständigung von einiger Relevanz, um das Bewußtsein des Verlustes, das sich in der umfassenden sozialen und kulturellen Kannibalisierung äußert, nicht nur als vorübergehende Unannehmlichkeit zu begreifen. Solange sich aber die interne Kommunikation über anthropologische und staatsphilosophische Grundlagen und auch über das eigene Erscheinungsbild bei den Konservativen nicht grundlegend ändert, werden sie von ihren Selbstheilungsquellen abgeschnitten bleiben und in der politischen Auseinandersetzung unterliegen.

Anregender und erfrischender sind da schon die Diskussionen über die Zukunft des Konservativismus, die die Zeitschrift Criticón in ihrer Frühjahrsausgabe begonnen hat. Wenn Zabel/Sohn im Editorial die "konservativen Muttersöhnchen" und die "Rechten in ihren Ohrensesseln" schlachten, macht das Spaß – und ist vollauf berechtigt. Weniger spaßig ist es, wenn Gunnar Sohn in der zweiten April-Ausgabe von Gegengift "für eine konservative Revolte" plädiert, manche der hier angebotenen Wegweisungen aber wohl eher in eine als zeitgeistige Spaßgesellschaft getarnte totalitäre Ausbeuterordnung führen würden. Andere Rezepturen erinnern dagegen ein wenig an die 68er-Parolen zur "großen Verweigerung" gegen den "Konsumterror", die letztlich in einem entfesselten Links-Kapitalismus mit permanenter Konsumverblödung endeten. Zudem verspricht man sich von einem Mentalitätswandel wahrscheinlich ein bißchen zuviel. Solange eine Dynamisierung öffentlicher Debatten nicht möglich ist, weil die entscheidenden Medien, die die Lenkungsmacht innehaben, eben alles andere als konservativ sind, ist eine winzige "Gegenmacht" von Publizisten, Intellektuellen und "Instituten" wohl kaum in der Lage, als medial-vermittelte, konstruktive kollektive Repräsentantin des Konservativismus erfolgreich zu agieren.

Wie konnte die 68er-Bewegung zum Topos der politischen Kultur avancieren und einerseits die alten Wertemuster der bürgerlichen Gesellschaft auflösen, andererseits aber zum Katalysator einer neoliberalen Globalisierungsgesellschaft des Massenkonsums werden? Wenn sich die Neue Linke aus einer Melange von dunklem Kulturpessimismus und aufklärerischem Vernunftsvertrauen in die Lösung aller politiko-kulturellen und sozialen Probleme speiste und der Mythisierung dieser Trägerideen ihre Konnotation mit Freiheit und Abenteuer verdankte, warum gelingt es dann einer Neuen Rechten nicht, an diesen Erfolg anzuknüpfen oder zumindest perspektivisch ihre Schlüsse daraus zu ziehen? Welche Bedeutung kann der Konservativismus im Spannungsfeld von Politik und Öffentlichkeit angesichts des Verlustes lebensweltlicher Bindungen an spezifisch konservative Milieus (Katholizismus, Landbevölkerung, Bürgertum) und der Auflösung seiner integralen Bestandteile (Bünde, Rituale, Symbole) heute noch haben? Reduziert sich radikale Systemkritik auf bloße Phänomenologie, wenn man das System nur von seinen eigenen nicht realisierten Ansprüchen, wie zum Beispiel Meinungs- und Versammlungsfreiheit, her kritisiert, anstatt es grundsätzlich in Frage zu stellen? Kann das Christentum als ein inzwischen unverbindlicher Humanismus ohne Gott noch ein natürlicher Verbündeter der Konservativen im fortgeschrittensten Stadium der Nervosität des modernen Zeitalters sein? Was könnte die Psychologie dazu beitragen, das Abgeschnittensein des Menschen von der Instinktnatur des Unbewußten wieder rückgängig zu machen?

Eine wichtige Voraussetzung für die Begründung rechter, konservativer Alternativen und Chancen wäre eine ernsthafte Analyse sozial-ökonomischer Entwicklungsprozesse, um einen kritischen Beitrag für die gegenwärtige gesellschaftliche Debatte über die Richtung, in die der Turbo-Kapitalismus marschiert, zu leisten. Wo aber bleiben die Anregungen für eine konservativ begründete Gegenwehr gegen die angeblich "unaufhaltsame Globalisierung", deren bedrohliche Entwicklung nicht nur die Grundlagen des Nationalstaates untergräbt und die Aufzehrung des Mittelstandes betreibt, sondern unter den veränderten Bedingungen der Internationalisierung auch nationalen Bewegungen keine Zukunftsperspektive mehr bietet? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den europäischen Integrationsprojekten (Binnenmarkt, WWU) und den politischen Kräfteverhältnissen, sozialen Prozessen und nationalen Interessenkonstellationen? Was sagt der Konservativismus zur Entstehung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft neuen Typs, zur Selbstausgrenzung von Einwandererminoritäten oder zu der Frage, ob soziale Bewegungen überhaupt noch einen Machtfaktor darstellen und wie gegen die zunehmende Polarisierung vorgegangen werden kann? Müßte nicht in einem Plädoyer für eine konservative Gesellschaftsreform statt wohlfeiler neoliberaler Modernisierungsstrategien auch einmal unser Verhältnis zum Konflikt von Form- und Stoffdimension in der Marxschen Darstellung von Wertbildung (produktive und unproduktive Arbeit) erörtert werden? Wann klären die Konservativen ihr Verhältnis zum Sozialstaat, zur Handlungsfähigkeit der Demokratie im Globalkapitalismus und zu einer Politischen Ökonomie des "Dritten Weges" (Ota Sik)? Und gibt es wirklich gegenüber einem Nominalismus der sozialen Phänomene von links nur die völlig unbefriedigende Alternative einer biologistischen Interpretation menschlichen Verhaltens, wie sie uns von sogenannten neokonservativen – in Wahrheit aber neoliberalen – Vordenkern empfohlen wird?

Ein genuines, ungelöstes theoretisches Dilemma besteht darin, daß es konservativen und nationalen Strömungen hierzulande nicht gelingt, die in der Bevölkerung latent vorhandene Unzufriedenheit mit der politischen Klasse in Engagement für echte politische Alternativen umzuwandeln. Dazu ist aber eine wahrnehmbare, attraktive und plurale Strömung wider den herrschenden Zeitgeist notwendig, die Kreativität, Aufklärung und populistische Ausstrahlung miteinander verbindet und die Menschen vor allem als handelnde Bürger wahrnimmt. Diese verstehen aber Konservativismus entweder als bewahrende Grabkammer politisch-kulturell desavouierter Ideologien oder bestenfalls als letztes bürgerliches Bildungserlebnis, keinesfalls jedoch als authentische Lebensregung, deren intellektuelle Präsenz nationalen und europäischen Geltungsanspruch erhebt.

Politische Theorien des Konservativismus zehren am meisten noch von der Tradition einer Kulturnation, die über sich, ihre Geschichte und ihre Zukunft nachdenkt. Und hier gibt es in der Tat eine durchaus ambitiöse Literatur mit zum Teil außerordentlich aufklärerischem Charakter und einem hohen ideologiekritischen Niveau, die jedoch zur Legitimationsideologie verkommt, weil sie die zentralen Probleme beharrlich ignoriert. Das liegt u.a. daran, daß konservative oder neurechte Theoretiker (Alain de Benoist) erst jetzt ansatzweise beginnen, sich einer ihrer zentralen Aufgaben zuzuwenden: der Analyse von Herrschaft und Entfremdung in den bürgerlichen, parlamentarischen Demokratien. Die Abwägung zwischen plebiszitären – Linke nennen das gern "basisdemokratisch" – und institutionellen Mitbestimmungsmöglichkeiten ist jedoch ein hochaktuelles Thema, das in kontroversen Debatten zwischen politischer Führung und Volk immer wieder neu verhandelt werden muß. Mit der Erringung der "Lufthoheit über den Stammtischen" ist es da längst nicht mehr getan. Daß heute zum Beispiel die Abschaffung der Deutschen als Staatsvolk strategietheoretisch gedacht werden kann, hängt auch damit zusammen, daß die historischen Voraussetzungen des Parlamentarismus zwar längst entfallen, ein völlig umerzogenes Volk und eine unattraktive Rechte ohne jegliches populistisches Charisma aber nicht in der Lage sind, daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Diejenigen, "die unten, außen, jenseits der Repräsentationsentscheide leben" (Frank Böckelmann), die schweigende Mehrheit also, kann man aber nur erreichen, wenn man die Trennung der Sphäre des Öffentlichen und Entgrenzten erfolgreich unterläuft.

Wer aber nicht mehr als Teil eines öffentlichen Reflexions- und Diskussionsprozesses, wie er nun einmal unverzichtbar für moderne demokratische Gesellschaften ist, erkannt wird, muß sich Öffentlichkeit selbst verschaffen und sich notfalls auch mit der öffentlichen Reaktion, die dann das soziale und politische Relevanzkriterium abgibt, legitimieren. Erst dann kann man mit einiger Aussicht auf Erfolg um Begriffe und Theorien mit Argumenten streiten und den notwendigen Kulturkampf vorbereiten. Die Rolle der verkannten Genies, auf die nur leider keiner hören will, ist ein völlig ungedeckter Scheck auf die politische Zukunft, und im übrigen läßt sich Genialität auch nicht organisieren.

Was die Konservativen in Deutschland aber nicht brauchen, ist der xte Aufguß einer rechtsnationalen oder rechtskonservativen Kleinstpartei mitsamt ihren autistisch vor sich hin redenden Kandidaten und bei potentiellen Fusions- oder Koalitionspartnern antichambrierenden Funktionären. Wenn wir irgendetwas von der Neuen Linken lernen können, dann doch dies: Die Partei entsteht im Kampf. Nur hier kann sie eine emotionale Dynamik entfalten, die sukzessive die Grenzen auslotet und schließlich sprengt. Die Partei wird dann nicht mehr und nicht weniger sein als die "Herrin der Kleinigkeiten", die die Dramatisierung des Alltäglichen vorantreibt und vor allem das irritierende Schwanken der diversen "Bewegungen" zwischen Nonchalance und blindem Aktionismus durch ihren Gestaltungswillen beendet.

Das wird nicht ohne Widerstände der herrschenden politischen Klasse vor sich gehen, und es wäre ein grober Fehler, die Gefährlichkeit des "samtenen Totalitarismus" zu unterschätzen, dessen Freund-Feind-Kennung sehr präzise funktioniert. Hans Freyers Satz, daß sekundäre Systeme die Gefahr totalitärer Entwicklung in sich trügen, ist nämlich auch in seiner Umkehrung richtig, daß die totalitäre Entwicklung nach dem Gesetz der sekundären Systeme verläuft. Anders als die revolutionäre Linke, der das schon immer klar war, müssen Konservative aber offenbar noch lernen, daß Gewalt und Verbrechen zwei sehr verschiedene Dinge sind und vor allem, daß "der größte Feind der Nation ein Teil ihrer selbst ist" (Günter Maschke). Wozu dieser Feind fähig ist – vom Gesinnungsterror bis hin zur Aufforderung zum politischen Mord –, ist am Beispiel Österreichs anschaulich demonstriert worden.

Vielleicht bedeutet die Situation der splendid isolation des Konservativismus in Deutschland in diesem Zusammenhang ja sogar eine große Chance. Utopien entspringen immer einer kritischen Distanz zur Gegenwart, die dem angestrebten Ideal einer neuen Gesellschaftsordnung antagonistisch gegenübersteht. Und Niederlagen haben einen nicht zu unterschätzenden historischen Wert. Bei der Suche nach Antworten, wie man den Menschen eine geistige Bedeutung, eine geistige Unruhe wiedergeben kann, wird man nämlich zwangsläufig auf die Spuren der Neuen Linken stoßen. Es lohnt sich, ihre diversen Argumentationsketten zur Kenntnis zu nehmen, denn sie sind ein Zweig der deutschen Misere und damit der Krise der Rechten. Und die Frage nach ihrer immanenten Richtigkeit – wie wir sie von Adorno gelernt haben – entfällt selbst nicht angesichts moralischer Hypertrophie und antifaschistischer Unterwerfungsgesten. Aber Vorsicht ist angebracht: Auch eine ästhetische Revolte läßt sich nicht wiederholen.

 

Werner Olles war 1968/69 Mitglied im Frankfurter SDS, engagierte sich danach in Splittergruppen der Neuen Linken und gehörte von 1973 bis 1977 den Jungsozialisten an. Als Publizist schreibt er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.


 
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