© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Osteuropa-Forschung in der Krise
Von Etatkürzungen bedroht: Sanierungsvorschläge auf Kosten der Vertriebenenkultur
Isabell Strunz

Europa öffnet sich nach Osten, und Deutschland wickelt seine "Ostforschung" ab. Das klingt paradox, übertreibt dramatisierend und trifft doch den Kern der Malaise. Denn mit zunehmender Heftigkeit streiten Vertreter der universitären Osteuropakunde seit Jahren über die Zukunft eines Faches, das seit 1989 eigentlich in schönster Blüte stehen müßte und dessen Renommier-Institute, wie etwa das Osteuropa-Institut der FU Berlin, trotzdem auf die Streichlisten der Kulturpolitiker geraten sind.

Jörg Baberowski hat vor einigen Monaten in der Neuen Zürcher Zeitung das Totenglöcklein geläutet: Zumindest die Teildisziplin Osteuropäische Geschichte solle wegen theoretischer Defizite und des Mangels an methodischer Eigenständigkeit den Allgemeinhistorikern zugeschlagen werden, die dann mit dieser Verstärkung unter dem Dach der "Europäischen Geschichte" forschen und lehren. Denkt man Baberowski weiter, gibt es eigentlich kein Hindernis mehr, auch die philologischen, landeskundlichen, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplinen wieder in ihre "Mutterfakultäten" zu überführen.

Dieser Desintegrationslogik sind Christopher P. Storck und Matthias Roeser im jüngsten Heft von Osteuropa, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, entgegengetreten.

Storck und Roeser stellen drei Thesen auf, von denen die dritte mehr als nur wissenschaftspolitischen Sprengstoff enthält. Zum einen sind sie davon überzeugt, daß die nach 1989 zu verzeichnende "Explosion des öffentlichen Interesses" an Osteuropa, der dadurch ausgelöste Studentenboom und die "enorme Expertennachfrage von Presse, Funk und Fernsehen" von akademischer Seite nur unzureichend genutzt worden sei. Als sich Anfang der neunziger Jahre mit dem Putsch in Moskau und dem Beginn des Bosnien-Krieges die Ereignisse überschlugen, verließen nur wenige Professoren ihren Elfenbeinturm. So hätten umtriebige Geister wie Christian Schwarz-Schilling und Peter Scholl-Latour als "Ostexperten" das Medienfeld okkupieren können. Wären Fachvertreter ihnen in die Parade gefahren, wäre das Prestige ihrer Disziplinen inneruniversitär gestiegen, was den Stellenabbau verhindert hätte.

Zum zweiten führen sie den Bedeutungsverlust auf die Unfähigkeit zurück, den praktischen Anforderungen an die Osteuropa-Wissenschaften gerecht zu werden. Ihr Plädoyer für mehr Praxisnähe orientieren sie an guten Erfahrungen mit "Regionalstudiengängen" für China und Lateinamerika.Ein analog konstruierter Regionalstudiengang müßte – unter stärkerer Beachtung der Interessen von Politik und Wirtschaft – die von Abwicklung bedrohte fach- und fakultätsübergreifende Osteuropa-Forschung großer Institute wie in Berlin, München oder Köln stärken.

Die brisante dritte These besagt, daß wegen des nahen EU-Beitritts von Polen, Estland, Ungarn und Tschechien die traditionelle Ausrichtung auf "Rußland" zugunsten "Ostmitteleuropas" geändert werden müsse. Diese Region sei bisher leider den "Deutschtumsinstituten" überlassen worden. Also jenen Einrichtungen wie etwa dem Münchner Collegium Carolinum (CC), die nach § 96 Bundesvertriebengesetz im Rahmen der "Vertriebenenkultur" auf die "alte Heimat" fixiert seien. So werde die Beschäftigung mit Tschechien immer noch vom Primat der sudetendeutschen Frage beherrscht. Das CC übe hier einen erheblichen politischen Einfluß aus: Diese Form der "Lehrstuhlbohemistik" dominiere allzu sehr die deutsche Sektion der deutsch-tschechischen Historikerkommission und versuche mittels Projektvergabe und Publikationssteuerung selbst die tschechische Forschung regelrecht "einzukaufen". Die von Staatsminister Michael Naumann begonnene Neuregelung der Kulturförderung nach § 96 BVFG biete nun jedoch die Chance, Institute wie das CC finanziell auszutrocknen und, wie Storck/Roeser cum grano salis argumentieren, mit deren Konkursmasse die kränkelnden Osteuropainstitute zu sanieren: "Nur das garantiert die Historisierung des Themas ‘Flucht und Vertreibung‘ und eine Versachlichung des Dialogs mit den deutschen Nachbarn im Osten."


 
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