© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Stadt der toten Dichter
Thomas Steinfeld: Weimar. Spaziergänge in der ästhetischen Provinz
Christian Hornig

Erst spät landete ein Weimar-Buch auf dem Schreibtisch des Rezensenten, da sich das Goethe- und Kulturhauptstadtjahr dem Ende zuneigte – und doch war es vielleicht jenes Buch, das ihn mit dem Horror einer touristisch überlaufenden Provinzmetropole versöhnte.

Warum Provinz, warum Metropole? Thomas Steinfeld, Kulturredakteur bei der FAZ, gibt darauf eine einleuchtende Antwort: weil die Idee einer "ästhetischen Provinz" zwar zum Scheitern verurteilt war, doch seit den Zeiten Goethes und Schillers neue Triebe ausbildete, die kurzfristig die große Welt in den thüringischen Ort holten. Unter Herzog Carl August und seinen minder begabten Nachfolgern galt es, ebenso zu Zeiten Liszts und Harry Graf Kesslers, die Idee eines ästhetischen Reichs zu verwirklichen: literarisch, musikalisch, schließlich – unter den Auspizien der Gralsbewahrerin Elisabeth Förster-Nietzsche, die ihren bewußtlosen Bruder zum Ausstellungsstück für einen makabren Kulturtourismus machte – schließlich gar philosophisch.

Eine Geschichte Weimars kann sich daher problemlos an den Biographien derjenigen orientieren, die ihren Traum einer ästhetischen Existenz nur hier zu träumen wagten. Daß das Scheitern den idealistischen Plänen von vornherein eingeschrieben war, wußte wohl bereits der alte Goethe, der die "Disproportion des Talents mit dem Leben" in seinem "Torquarto Tasso" reflektiert hatte. Er schloß seinen "Faust II" kurz vor seinem Tode ein und verweigerte ihn damit der Mitwelt, wohl wissend, daß das Leben mit der Kunst weniger zu tun hat, als es sich die goethebesessenen Nachfahren vorgaukelten. Die schnell mythologisierte Freundschaft mit Schiller blieb eine Arbeitsbeziehung voller Irritationen und Mißverständnisse. Immerhin hatte Goethes Weimar noch vom Widerspruch zwischen bürgerlicher Weltkultur und Nation profitiert. Kein Wunder aber, daß eine "Klassik" unter den Bedingungen einer Ackerbürgerstadt nicht zu realisieren war.Was sollten auch hungernde Strumpfwirker in Apolda mit dem "Humanitätsdrama" der "Iphigenie" zu tun haben?

Hatte Goethe noch fünfzig Jahre Zeit, um die sozial integrierende Macht der Kunst über die Grenzen des Städtchens hinaus wirken zu lassen, so blieben dem Virtuosen Liszt nur wenige Jahre. Auch sein Projekt einer künstlerischen Metropole im Geist goetheanisch inspirierter Musik mußte scheitern, weil zuviel dagegen sprach: die Mode wie die menschliche Trägheit. Eine "Art von Asyl in der Mitte der Welt" zu suchen: auf diese einleuchtende Formel bringt Steinfeld jeden Versuch, aus der Stadt ein Symbol, aus dem Ort ein Elysium des Geistes zu formen. Gewiß wurden hier Anstöße gegeben, wurden Kunstrichtungen entwickelt, die neudeutsche Schule erhielt hier ein von der Zugluft der Kritik umwehtes Heim, die Zeichnungen Rodins (eine Schenkung des Künstlers an den Grafen Kessler ist heute noch besichtigen), auch die Villa Henry van der Veldes und das erste Bauhaus. Haltbar war dies jedoch alles nicht, weder politisch noch ästhetisch, obwohl auch Weimar ein Ort der intellektuellen Moderne war. Er blieb auch relativ immun gegen jene Versuche nationalsozialistischer Kulturpolitik, die sich ihren Goethe zum Verkünder deutscher Kulturhegemonie und ihren Nietzsche zum Propheten des Herrenmenschentums zusammenphantasierten. So verstaubt auch die (verdienstvolle!) Goethe-Philologie und die obskure Nietzsche-Pflege des frühen 20. Jahrhunderts bis heute anmuten, so wenig konnte dies der "Stadt der toten Dichter" schaden - wohl weil sie, wie der Autor klug resümiert, weder für die gute noch die schlechte Seite der deutschen Geschichte symbolisch vereinnahmt werden kann. Insoweit dürfte auch das Lager Buchenwald, mit dem wahren, sich selbst erträumenden Weimar, nichts zu tun haben.

Am Ende bleibt Steinfeld, der mit großer Kenntnis und seiner zum Bonmot gespitzten Intelligenz ein außerordentlich gut geschriebenes Buch herausgab, nur die paradoxe Schlußfolgerung: "Aus dem Zufall, daß an dieser Stelle der thüringischen Provinz ein philosophisches Ideal zum Greifen nah gewesen sein soll, entsteht heute eine Kulturhauptstadt, als käme ein politisches Anliegen aus der Heldenzeit der deutschen Kultur erst jetzt zu seinem sinnfälligen Abschluß." War Weimar auch nie der Hauptort der Bildungsnation, so besaß es immerhin, im Schatten der Metropolen, die Anziehungskraft, die bis heute jährlich Zigtausende von Besuchern anzieht. Weimar kann heute jeder Turnschuhtourist besuchen, das mythische Luftreich des Geistes aber, dieser historische "Ort in der Provinz der Vergangenheit", will wahrgenommen sein: unter anderem durch die vom gefeierten Hofrat so oft beschworene und an sich selbst erfahrene "Bildung". Steinfelds Buch macht, gerade nach dem Ende eines Jahres permanenter Weimar-Überforderung, große Lust, wieder nach Weimar zu fahren: ins tatsächliche wie ins geistige.

 

Thomas Steinfeld: Weimar. Mit Photographie von Barabra Klemm, Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 288 Seiten, 48 Mark


 
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