© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Körper winden sich
Eindrücke vom Berliner Theatertreffen 2000
Hans-Jörg von Jena

Eine neue Tendenz ist beim Theatertreffen 2000 deutlich sichtbar geworden: die enge Verzahnung des Theaters mit dem Tanz. Vor allem strebt der Tanz zum "Tanztheater"; längst liegt kein Tabu mehr darauf, daß Tänzer auf der Bühne auch den Mund aufmachen, und das klassische Ballett ist zur – kostbaren – Sonderform geworden.

"Körper" wurde fürs Theatertreffen ausgewählt, jene erfolgreiche Einstandsinszenierung von Sascha Waltz an der Berliner Schaubühne, in der sich die beinahe nackten Tanzenden winden, akrobatisch ballen und ineinander verschlingen, als hätten sie‘s der antiken Laokoon-Gruppe abgeguckt. In anderer Richtung werden die herkömmlichen Spartengrenzen bei der Monteverdi-Adaption "La Guerra d‘Amore" überschritten. Joachim Schlömer (Regie und Choreographie) öffnet mit dieser Kreation für das Theater Basel die Tanzszene für die Oper. Dabei steht ihm mit René Jacobs der temperamentvollste der Alte-Musik-Matadore zur Seite.

Anfangs ertönt, mit Pauken und Trompeten, kriegerische Musik. Aber nicht um blutige Machtkämpfe, um Streit und Sieg auf dem Schlachtfeld geht es, sondern um den "Liebeskrieg" – der die Existenz allerdings mindestens ebenso gefährden kann. 21 Tänzer und neun Sänger umkreisen die Sehnsüchte, die Schmerzen, das Seelendrama des Einander-Verfallenseins. Sie schlendern als jugendliche Zeitgenossen in legerer Kleidung über die Bühne, schauen bedeutsam ins Publikum. Und plötzlich lösen sich einzelne aus der Gruppe, fallen ins Singen, in Sprung und Drehung, imaginieren "elende Geschichten" und wenn auch nicht den grausamen, so doch den süßen Tod. Das sind, zu Claudio Monteverdis archaisch ausdrucksreichen Madrigalen, zweieinhalb Stunden voller ergreifendem Zauber.

Eine zweite, nahezu gegensätzliche Tendenz: das Theater besinnt sich neu auf seine ureigene Domäne, das Wort. Uferlose Verspieltheit scheint für‘s erste passé, die Sprache wird wieder Herr der Szene. Beispiele boten ein Shakespeare-Gastspiel aus Köln sowie eine Ibsen-Inszenierung des scheidenden Bochumer Indentanten Leander Haußmann.

Ist "Die Regierung des Königs Edward III." überhaupt von Shakespeare? Falls ja, dann ist es eins seiner schwächsten Stücke – allerdings mit einigen starken Szenen und rhetorischem Glanz. "Edward III." besteht aus zwei halben Dramen, die nicht viel miteinander zu tun haben und künstlich aneinandergeklebt scheinen. Der König, ein Mann in reifen Jahren, verfällt zunächst in blinder Leidenschaft einer Gräfin Salesbury. Großartig die Szene, in der die Gräfin auf das Ansinnen des Königs scheinbar eingeht: sie überreicht ihm einen Dolch, mit dem er zuvor die Königin umbringen soll, ein zweiter Dolche sei für ihren Mann bestimmt (in Wahrheit will sie, eine zweite Lukrezia, sich selbst damit töten). Urplötzlich, ohne jede Überleitung oder Begründung, erwacht der König aus seinem Wahn. Er zieht nach Frankreich, führt Krieg, der nach manchem Hin und Her mit einem gloriosen Sieg endet. Von der Gräfin ist nicht mehr die Rede. Indem er derart brüsk verfährt, macht es sich der Autor hier allzu leicht.

Gleichwohl, es lohnt sich, das Stück zu spielen, nicht zuletzt wegen des Hohns und der Tiraden eines teils selbstgefälligen, teils selbstkritischen Sarkasmus, mit dem die Machtrivalen im zweiten Teil aufeinander losgehen. Regisseur Frank-Patrick Steckel ordnet die Vorgänge etwas stereotyp in der Bühnenbreite an, entlang einem Tisch und zwei Bänken, die fast das ganze Bühnenportal einnehmen. Dadurch ist er gezwungen, seine 19 Schauspieler (die oft mehrere Rollen verkörpern) ermüdend oft von den Seiten her auftreten zu lassen. Voran der ironische Jochen Tovote (König), bleibt ihnen mehr als einmal nur Aufsagetheater an der Rampe.

Hat Leander Haußmann Ibsens späten "John Gabriel Borkman" wegen der Parallele zum Fall Jürgen Schneider aus halber Vergessenheit erweckt? Borkman, ehemals Bankdirektor (nachdenklich und selbstbezogen: Ezard Haußmann), hat als Bankrotteur und Betrüger fünf Jahre im Gefängnis gesessen, aber er ist kein kleiner Gauner, er hatte hochfliegende Pläne, für die er sich nur – vorübergehend, wie er mit Sicherheit hoffte – der Gelder seiner Klientel bediente. Um der Karriere willen trat er einst die Geliebte ab (als sie das verspätet durchschaut, nennt ihn die geradlinige Traute Hoess einen "Verbrecher") und heiratete statt dessen deren Schwester (verbittert und verachtungsvoll: Margit Carstensen). Acht Jahre bereits hat sich der Gestürzte im Dachgeschoß des Hauses eingeschlossen. Jetzt fürchtet man nur, er könnte sich wieder einmischen – was er auch versucht, jedoch nur  mit halber Kraft und ohne Erfolg.

Ibsen zeichnet hier ein gallebitteres Panorama des bürgerlichen Heldenlebens, todesbang und düster. Leander Haußmann geht auf die realistische Genauigkeit der Vorlage bis ins Detail ein, aber er weiß auch, daß beim Wort genommener Realismus ins Symbolische umschlägt – ohnehin und beim alten Ibsen allemal. Am Ende verläßt Borkman mit der Geliebten von einst das scheinbar bergende Haus, schreitet mit ihr in eine verklärte Nacht, in der weicher Schnee auf die Sünden und Fehler der Vergangenheit fällt, sie gnädig zudeckend. Borkman dämmert in einen sanften Tod hinüber. Trolle nehmen ihn auf, verständnisvoll kichernd. Die Naturgeister rücken den Schluß den großen Lebensabrechnungen des "Faust" und des "Peer Gynt" erhellend an die Seite. Ibsen hat sie hier realistisch kostümiert. Die Haußmanns, Ezard wie Leander, heben behutsam den Schleier.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen