© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Faustische Kultur
Zum 120. Geburtstag von Oswald Spengler
Baal Müller

Oswald Spenglers berühmtes Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" (1917) beginnt mit den prophetischen Worten: "In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen." Die Faszination, die von dem monumentalen Werk des am 29. Mai 1880 geborenen und am 8. Mai 1936 verstorbenen Denkers ausging, beruhte nur zu einem Teil auf seinem genial-verwegenen futurologischen Anspruch; zu einem anderen und vielleicht größeren resultierte seine Popularität bei einem nach Hunderttausenden zu zählenden, meist oberflächlichen Lesepublikum aus der Tatsache, daß es wie kaum ein anderes dem Lebensgefühl der zwanziger Jahre in Deutschland entsprach.

Oberflächlich war diese Lektüre, insofern sie vornehmlich die dekadenten und apokalyptischen Momente rezipierte und den heroischen Aspekt von Spenglers Pessimismus, seine pathetische Forderung, auszuharren auf dem verlorenen Posten, übersah. Die Emphase des Schicksals ergibt sich notwendig aus Spenglers Projekt einer "Morphologie der Weltgeschichte", das heißt einer die ewig wiederkehrenden Urphänomene historischen Wandels beschreibenden Philosophie.

Jeder der acht von Spengler unterschiedenen Kulturkreise hat nach dieser Lehre eine Lebensdauer von rund tausend Jahren, in denen sich Aufstieg, Blütezeit und Verfall einer Kultur vollziehen. Einzig die Gesetze ihres Werdens und Vergehens sind überall dieselben; ansonsten hat jeder Kulturkreis seine eigene Religion und Moral, Kunst oder Philosophie, ja sogar seine eigene Mathematik und Physik. In diesem Relativismus autarker Systeme, der die Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung – aus heutiger Sicht irrtümlicherweise – bestreitet und jede "Renaissance" – dies jedoch mit Recht – verwirft, gelangt der Historismus des 19. Jahrhunderts zu seiner Vollendung. Von dessen Parzellierung des Geschichtsprozesses in isolierte, gleichwertige Fakten unterscheidet sich allerdings Spenglers, an Goethe geschulter synthetischer Blick, der die progressiven Konstruktionen des idealistischen Geschichtsdenkens aufgreift und zertrümmert. Geschichte ist für ihn kein universaler, linearer Prozeß, der durch Humanisierung der Menschheit zu einem globalen Telos führt, sondern jede Kultur durchläuft allein die notwendigen Stadien ihrer eigenen Entwicklung. Die naive und willkürliche Dreiteilung der "Weltgeschichte" in Altertum, Mittelalter und Neuzeit wird dadurch ebenso sinnlos wie die Vorstellung einer objektiven zeitlichen Dauer.

An Ferdinand Tönnies anknüpfend, wendet Spengler dessen Unterscheidung von Kultur und Zivilisation gleichwohl nicht wie die Anhänger der "Ideen von 1914" – so nah er ihnen steht – ins Polemische: Kultiviert ist nicht allein das Deutsche Reich im Gegensatz zum zivilisatorisch entarteten Westen, sondern Zivilisation ist die Spätform einer erstarrenden, sich zersetzenden Kultur, die Agonie jeder Kultur. Daß die moderne Zivilisation, anders als etwa die der spätrömischen Kaiserzeit, dennoch ein globales Phänomen ist, kann sich Spengler nicht anders als aus dem expansiven Drang der – von der Antike streng geschiedenen – "faustischen" Kultur des Abendlandes erklären. Dieser alles umspannende Zug, das letzte Stadium einer in Mathematik und Metaphysik, Erfindungen und Entdeckerfahrten sich ergießenden Sehnsucht nach dem Unendlichen, verkörpert sich im 20. Jahrhundert nicht mehr in Dichtern und Denkern, sondern in Konstrukteuren und Technikern, am meisten jedoch in den modernen Diktatoren als neuzeitlichen Cäsaren. Ungeachtet der grimmigen Leidenschaft, mit der Spengler diese Erscheinungen bejahte, trotz des fragwürdigen Determinismus und Relativismus seiner Konzeption und seiner allzu unbekümmerten Handhabung der Analogie hat er die historischen Entwicklungen der Moderne besser erkannt als die meisten seiner Zeitgenossen. So ließ Spenglers vergleichende Morphologie den Eurozentrismus seiner Zunftgenossen ebenso hinter sich, wie sein zynischer Pragmatismus ihm den Blick für die Deformationen der modernen Zivilisation schärfte. Schonungslos geißelte er die Ideologie der entfesselten Produktion und des schrankenlosen Konsums, und mit hellsichtiger Ironie bemerkte er die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Massenmedien: "Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern." Weniger seine Lehre vom Aufstieg und Niedergang der Kulturen als vielmehr seine in vielen Punkten zutreffende Zeitanalyse verschafft ihm heute wieder Aktualität. Vor allem die gegenwärtigen Diskussionen um Postmoderne und Posthistorie atmen gleichsam Spenglerschen Geist.

Sowohl die Theoretiker der Nachgeschichte als auch diejenigen, die einen solchen finalen Zustand für illusorisch halten, können sich auf Spengler berufen: Schon Arnold Toynbee hat 1936 Spenglers Zivilisationsbegriff wieder ins Christlich-Humanistische gewendet und eine neue globale Weltordnung nach dem Vorbild des Commonwealth erwartet, und in unserer Zeit haben Francis Fukuyama und Vilém Flusser ein Ende der Geschichte postuliert.

Andererseits hat Samuel Huntington in seinem berühmten "Kampf der Kulturen", an Spenglers Vorstellung weitgehend autonomer Kulturkreise anknüpfend, den Gedanken der Nachgeschichte als technokratische Illusion entlarvt. In Wirklichkeit gehe der Einfluß des Westens politisch, ökonomisch und demographisch zurück, und sein Globalisierungsmodell werde von anderen Kulturen als fremde Vorstellung verworfen.

Anstatt sich der "Einen Welt" einzufügen, übernähmen sie, wie Spengler vorausgesagt hat, vom Westen nur dasjenige technische Know-how, das sie in ihre gänzlich anderen kulturellen Traditionen einzufügen bereit seien. Ob es zu einem Kampf der Kulturen kommen wird, den die "weiße Rasse" bzw. die westliche Zivilisation, wie Spengler fürchtete, verlieren könnte, oder ob eine friedliche Regeneration der Kulturen als kollektive Identitäten im Sinne von Alain de Benoist möglich ist, bleibt abzuwarten. Die Vision des posthistorischen globalen Endzustandes westlicher Prägung widerlegt freilich die menschliche Natur: Diese ist nämlich aufgrund ihrer Endlichkeit wesenhaft geschichtlich.


 
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