© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Riffs durch die Institutionen
Weshalb Bob Dylan den Nobelpreis verdient
Silke Lührmann

Singen konnte er noch nie. Und auch das Reimeschmieden wurde dem wuschelköpfigen Jungen aus Duluth, Minnesota, offenbar nicht in die Wiege gelegt. Immerhin dauerte es zwei Alben, bis er auf The Times They Are A-Changin’ (1964) überwiegend eigenes Material präsentierte.

"Der Mut, den man braucht, Sparkassenräuber zu werden, auf blankem Steinboden in die taghelle Schalterhalle einzudringen, dieser Mut fehlte mir, als ich von meinen Erziehern gedrängt wurde, einen Beruf zu wählen", so beginnt Martin Walsers Kurzgeschichte "Die Klagen über meine Methoden häufen sich". Was Robert Allen Zimmermans Erzieher ihm damals geraten haben – geschweige denn, ob er auf sie hörte –, darüber können wir heute nur noch spekulieren. Und daß es eine gehörige Portion Mut braucht, in der neonhellen Konzerthalle auf glühende Bühnenplanken zu treten und zu glauben, man habe der gesichtslos tosenden Menge etwas zu bieten, das den Preis der Eintrittskarte wert ist, wird wohl niemand bestreiten. Sicher ist, daß es 1961 durchaus in der Luft lag, aus der Provinz nach New York zu gehen und Folksinger, dann Rockstar werden zu wollen. Sicher ist auch, daß Zimmerman die richtige Berufswahl traf.

Einen Nobelpreis für Sparkassenräuber gibt es schließlich nicht. Für Literatur aber sehr wohl, und hier – so ging es vor kurzem aufgeregt durch die Medien – wird Bob Dylan als heißer Geheimfavorit gehandelt. Was immer an derlei Gerüchten dran sein mag: Man kann sich vorstellen, wie schnell die Kulturwächter auf der Matte stünden. Wird hier nicht der berüchtigten postmodernen Beliebigkeit Tor und Tür geöffnet? Anything goes – heute Bob Dylan, morgen die Spice Girls oder gar, horribile dictu, irgendein politisch völlig inkorrekter Rapper, der aber dennoch wohl oder übel salonfähig ist (weil aus dem Ghetto und den Fetisch der Authentizität garantierend)?

Mit seiner näselnd-monotonen Stimme, der sehnsüchtig (an)klagenden Mundharmonika und den ständigen Textimprovisationen ist Bob Dylan eine Ikone unserer schizophrenen Zeiten – einer der glücklichen, die das System für ihre Proteste reich belohnt hat. Den christlichen Fundamentalismus hat er ebenso ausprobiert – mit desaströsen Auswirkungen auf seine Musik; Slow Train Coming (1979) ist die einzige wirklich schlechte Platte, die Dylan je gemacht hat – wie die hedonistische Dekadenz samt gitarrenförmigem Schwimmbecken. Als er Ende der sechziger Jahre auf E-Gitarre umstieg, witterten seine Apostel Verrat und meinten, der fatale erste Schritt in die Komplizität sei schon getan.

Für jede simplizistische Polithymne schreibt Dylan drei hypnotisch-filigrane Balladen wie "Tangled Up in Blue", "Rosemary, Lily and the Jack of Hearts" oder "Shelter From the Storm"; für jede Reim-dich-oder-ich-freß-dich-Zeile, die sämtliche Amalgamfüllungen zum Kreischen bringt, eine Metapher von solch bitterer, luminöser Intensität, daß man sich fragt, wie ein Mensch soviel Klarsicht erträgt.

Der walisische Dichter Dylan Thomas (1914–1953) stand ihm nicht zufällig bei der Wahl des Künstlernamens Pate. Der halluzinatorische Surrealismus von Stücken wie "Hard Rain Falling" oder "Memphis Blues" erinnert an dessen Lyrik. Oder auch an eine Malerei – irgendwo zwischen Dalís Fata Morganen und Chagalls fiebrigen Dorfkarnevalesken –, die abbildet, wie Träume von innen aussehen, und so ein Stück Welt wieder verzaubert. Dylans beste Texte erzählen Geschichten, ohne sich der narrativen Vernunft "echter" Literatur verpflichtet zu fühlen. Sie verlieren sich in barocken Ausschmückungen, nehmen den roten Faden wieder auf, nur um sich vom Refrain mitreißen zu lassen, springen ohne erkennbaren Zwang zwischen unterschiedlichen Erzählperspektiven hin und her und schöpfen Bilder, die nie ganz aufgehen – weil sie die mühevolle Langeweile jener Randzonen vermeiden, in denen jedes Puzzlestück gleich himmel- oder meerblau aussieht und es nur um die ordentliche Reihenfolge geht. Der Herzbube ist zugleich Spielkarte, geheimnisvoller Fremder und Nebenbuhler in dem Drama, das sich um den despotischen Big Jim, den ewig betrunkenen Henker und die Prostituierte Lily – eine Frau, die sich wünscht, eine einzige gute Tat zu tun, bevor sie stirbt – entspinnt, während im Nebenzimmer ominöse Löcher gebohrt werden. Ist das lyrische Ich in "Shelter From the Storm" Jesus oder doch nur ein gewöhnlicher, von der Liebe geschlagener Mann? Und was genau passiert eigentlich zwischen den beiden Getriebenen, die sich in "Tangled Up in Blue" immer wieder verfehlen und begegnen? Egal, denn schon die allerersten Takte beschwören stimmsicher die Trauer um etwas, was einmal hätte sein können.

Im angelsächsischen Kulturkreis existiert eine Dichtkunst im öffentlichen Raum, die hierzulande keine rechte Entsprechung findet. So wird in Großbritannien regelmäßig ein "poet laureate" gekürt, von dem man erwartet, daß er zu offiziellen Anlässen die passenden Worte findet, und bei der feierlichen Inauguration des amerikanischen Präsidenten darf der aktuell angesagte Hofbarde als Repräsentant des Zeitschmerzes auf dem Programm nicht fehlen: Robert Frost für John F. Kennedy, Maya Angelou für Bill Clinton. Genauso wie angeblich jeder Moskauer Taxifahrer Puschkin zitieren kann, kennt jeder Ire den Feuilletonliebling der achtziger Jahre Seamus Heaney – oder ist zumindest jederzeit bereit, im Pub auf sein Wohl anzustoßen. Textlastige Musiker wie Bob Dylan, Leonard Cohen, Tom Waits oder selbst Bruce Springsteen bilden ein Extrem dieser Funktion von Dichtung als nationaler Mythenbildung, die gerade in den Vereinigten Staaten von Walt Whitman bis Allen Ginsberg eine lange Tradition hat und sich dort immer auch als demokratische Bürgerverantwortung versteht.

Mit Auszeichnungen wie dem Nobelpreis für Literatur ehrt die westliche Betroffenheit sich selbst. Sie werden gerne an Menschen mit nachweisbarem Leidensdruck verliehen – lateinamerikanische Revolutionsromantik oder das pittoreske Elend der dritten Welt sind hier ebenso gefragt wie Texte, die uns helfen, die Gnade der späten Geburt zu bewältigen. Bob Dylan erfüllt diese Kriterien marginal: Er ist jüdischer Abstammung und wäre vor drei Jahren beinahe an einem exotischen Lungenvirus gestorben, den er sich in Mexiko einfing.

Vielleicht wird eines Tages doch noch ein Nobelpreis für Sparkassenräuber ausgelobt, oder auch für Computerhacker. Bis dahin sollte man wenigstens den Literaturpreis vor den tatsächlich einflußreichen und nützlichen Dichtern unseres öffentlichen Lebens schützen: den Werbetextern. Bevor "The Times They Are A-Changin’" zur Erkennungsmelodie einer Internetbank verkommt oder "Baby Blue" dazu mißbraucht wird, die neue Tommy-Hilfinger-Kollektion an den Teenie zu bringen, wäre er bei Bob Dylan nicht in den schlechtesten Händen. Doch die Gefahr besteht gar nicht erst, denn Dylans Musik ist schon lange viel zu uncool, als daß sich die PR-Agenturen für ihn interessieren würden. Die Zeiten haben sich halt geändert. Silke Lührmann

 

Bob Dylan tritt im Rahmen seiner "live and in person"-Tournee am 23.5. in Berlin, am 24. 5. in Dresden und am 25.5. in Regensburg auf.


 
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