© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Das Zentrum an der Peripherie
Eine fast vergessene Partei sucht nach einem neuen Profil
Paul Frommeier

Der Partei-Patriarch ist ein ebenso rüstiger wie rühriger Herr von 72 Jahren. Er schaut aus dem Fenster des Fraktionsraumes auf die meist belebte Fußgängerzone. "Manchmal schäme ich mich, durch die Straßen zu gehen", sagt der Parteivorsitzende. Schwarze Kassen, geheimbündlerisch nach Liechtenstein geschaffte Geldkoffer, Filz? Nichts von alledem.

Offenbar verhält sich die moralische Empfindsamkeit umgekehrt proportional zur politischen Bedeutung. Gerhardt Woitzik, pensionierter Landesoberamtsrat und bis zum Herbst letzten Jahres stellvertretender Bürgermeister der 60.000-Einwohner-Stadt Dormagen, eine halbe Bahnstunde entfernt von Köln und Düsseldorf, schämt sich, weil die Deutsche Zentrumspartei seit den letzten Wahlen nur noch mit drei Mitgliedern im Stadtrat vertreten ist, der nun mit absoluter Mehrheit von der CDU beherrscht wird. Das Zentrum dümpelt an der Peripherie selbst der Kommune, überregional tendiert die Bedeutung der ältesten Deutschen Partei gegen Null.

Große Namen aus der Vergangenheit werden beschworen wie aschegewordene Erinnerung, aus der der Phönix neuer Bedeutung aufsteigen möge. Konrad Adenauer war bis 1933 im Reichsvorstand der Zentrumspartei, die nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem die Reichskanzler Fehrenbach, Wirth, Marx und Brüning stellte.

Im Oktober 1870 wurde das katholische Zentrum aus der Taufe gehoben, ein Jahr vor der Reichsgründung Bismarcks. Ihre Wurzeln gehen zurück bis vor die 1848er Revolution, katholisch ausgerichtete Politiker übernahmen die Interessenvertretung der konfessionellen Minderheit im überwiegend protestantischen Preußen. Ludwig Windthorst galt lange als der einzig wahre Gegenspieler Bismarcks, der erste Reichskanzler sah dank des Unfehlbarkeitsdogmas des ersten Vatikanischen Konzils in den Katholiken eine Gefahr für die Monarchie.

In der Weimarer Republik war es der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, der als Reichskanzler von 1930 bis 1932 mit Notverordnungen einen Ausweg aus der Situation suchte, die Bedingungen für die nationalsozialistische Machtergreifung war. Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 aber stimmte seine Partei zu – ein verhängnisvolles Entgegenkommen für die von Hitler im Reichskonkordat gemachte Zusicherung des Schutzes der Kirche gegen staatliche Repressionen. Noch 1933 löste sich die Partei selbst auf. Zur politischen Heimat alter NSDAP-Mitglieder wurde sie nach der Wiedergründung 1946 nicht. "Dagegen hat sich die Partei strikt gewehrt", sagt Gerhardt Woitzik. In katholischer Tradition verhaftet, nun überkonfessionell und der Mitte zugehörig, war es nicht zuletzt die Kirche, die die CDU mit ihrem Mitbegründer und späteren Bundeskanzler Adenauer bis von der Kanzel herab gegen das Zentrum stärkte. Nur in der ersten Nachkriegsregierung der Bundesrepublik war die Partei noch vertreten. Die seit den fünfziger Jahren festgeschriebene Fünf-Prozent-Klausel beschleunigte den Weg in die politische Bedeutungslosigkeit.

Es blieb jenes regionale Refugium, aus dem heraus nun nach einem neuen Profil gesucht wird. Mit hemdsärmeliger und zupackender Bürgernähe verstand es der jetzige Bundesvorsitzende Woitzik, der CDU und der SPD über Jahrzehnte Paroli zu bieten. Nicht zuletzt dank eines hochgelobten und beispielhaften, mit der Gewährung von Sozialrabatten geförderten Wohnbauprojektes für junge Familien in Dormagen, von Volkes Mund anerkennend "Woitzik-City" genannt. 400 der rund 1.000 Mitglieder rekrutieren sich aus dem dortigen Ortsverband.

Die vieldiskutierte Glaubwürdigkeitskrise insbesondere der CDU ist Anlaß zur Sorge und zugleich eine Chance. Auf Antrag der Deutschen Zentrumspartei wurde einst ins Grundgesetz geschrieben, daß die Parteien "über Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben müssen". Daß ein langjähriger treuer Gefolgsmann Helmut Kohls, Norbert Blüm, der eigenen Partei öffentlich attestierte, sie habe durch den Parteienskandal ihren "sittlichen Impuls verloren", stimmt nachdenklich.

Die Zentrumspartei hat keinen Impuls verloren, sie benötigt einen: den der Umsetzung alter und wertkonservativer Grundsätze auf Basis christlicher Ethik und sozialer Verantwortung in praktische politische Arbeit unter den Bedingungen neuer gesellschaftlicher Realitäten. Sie muß sich, will sie ihre Position der fast vergessenen Partei überwinden, Wirkung verschaffen. Inhaltlich unterscheidet sich das Programm des Zentrums nicht wesentlich von denen der etablierten Parteien. Die Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen programmatischem Anspruch und Wirklichkeit evident werden zu lassen, hatte die Partei nicht, da ihr Wirkungsbereich über Jahrzehnte lokal begrenzt blieb. Den technokratischen Apparaten der großen Parteien mit Idealismus und Einsatzbereitschaft einzelner und einem offenen Ohr für die Belange der Menschen zu begegnen, mag ein hehrer Gedanke sein; die starre politische Landschaft damit verändern zu können, ist naiv. Das weiß die Führung. Neue Landesverbände wurden gegründet, die Arbeit in der Nachwuchsorganisation intensiviert. Um bei überregionalen Wahlen die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, bedürfte es der politischen Zugkraft einer Galionsfigur. "Einer wie Blüm wäre der Richtige", meint Gerhardt Woitzik.

Die Chance, die die Deutsche Zentrumspartei realistisch (kaum?) noch hat, könnte sie nutzen, gelänge es ihr, Menschen für aktive Mitarbeit in ihren Reihen zu gewinnen, die, so Woitzik, "ein Höchstmaß an persönlicher Glaubwürdigkeit mit Fachkompetenz und Einsatzbereitschaft verbinden".


 
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