© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Geschichtslegende
Karl Heinzen

Die auf den diesjährigen Hayek-Tagen im schweizerischen St. Gallen versammelten Wissenschaftler haben beschlossen, daß die Öffentlichkeit dem Sozialismus ab sofort auch keine historische Berechtigung mehr zuerkennen soll. Da der Kapitalismus siegreich gewesen sei, müsse davon ausgegangen werden, daß von einer wirklichen Alternative auch in der Vergangenheit nicht gesprochen werden könne – sonst hätte sich diese ja schließlich durchgesetzt. Wer sich dennoch früher, zum Beispiel im 19. Jahrhundert, sozialistischer Neigungen nicht zu fein gewesen sei, müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, die schöpferische Entfaltung der freien Marktwirtschaft behindert und vielleicht sogar verzögert zu haben. Und das wider besseres Wissen: Seit seinem Erscheinen in der Geschichte verspricht der Kapitalismus allen alles, was sie wollen. Sie hätten nur auf ihn hören müssen.

Detmar Doering, Deutschlands bekanntester Übersetzer des Werks von Hayek ins geistige Taschenformat, konnte es angesichts dieser euphorischen Stimmungslage in St. Gallen sogar wagen, mit einer der übelsten Geschichtslügen aufzuräumen. Es sei falsch, so das Ergebnis seiner historischen Studien, daß England unter dem Manchestertum gelitten habe. Diese Fehleinschätzung sei durch den Roman "Oliver Twist" kolportiert worden und verdiene es daher, als "Dickens-Syndrom" bezeichnet zu werden. Nicht allein Marx und Engels gehören somit auf die Anklagebank, weil sie mit ihren posthegelianischen Rührstücken die Wirklichkeit nach den eigenen Wünschen zurechtbogen.

Schon Dickens habe sich zu einem frühen Handlanger der totalitären Antikapitalismen des 20. Jahrhunderts gemacht, weil er seine unbestrittene schriftstellerische Begabung für agitatorischen Kitsch mißbrauchte, anstatt zum Beispiel entschieden für eine Liberalisierung des Außenhandels und eine Reduzierung der Staatsquote einzutreten. Es entlastet ihn, daß er nicht der einzige war, der die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Fast alle unmittelbaren Zeitgenossen haben sich im Wesen der sozialen Verhältnisse, die sie erlebten, geirrt.

So ist es denn auch – und dies ist ein weiteres Ergebnis der Hayek-Tage – unsinnig, immer noch von einer "sozialen Frage" zu sprechen, die es irgendwann einmal gegeben habe. Der Kapitalismus solle sich nicht auf dieses Gespenst einlassen, das Konservative und Sozialisten einst gemeinsam an die Wand gemalt hätten, um sich dann als Retter zu empfehlen. Man müsse lernen, zu begreifen, daß die Vorstellung von Gerechtigkeit untrennbar mit dem Markt verbunden ist. Vor dem Preis sind alle Menschen gleich.

Daß manche ihn entrichten können und manche nicht, ist ein Einwand, den man nicht gelten lassen sollte, weil er einem Neiddenken Vorschub leistet. Wer heute wohlhabend ist, verdankt dies nicht dem Sozialismus, welcher Spielart auch immer. Das sollten gerade jene nicht vergessen, die noch reich werden wollen.


 
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