© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/00 19. Mai 2000

 
Die gezähmte Nation
Joschka Fischers Visionen von einer Europäisierung Deutschlands
Michael Wiesberg

Die Rede, die Bundesaußenminister Fischer am 12. Mai an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat, löste innen- und außenpolitisch eine starke Resonanz aus. Fischer entfaltete in dieser Rede seine "Gedanken über die Finalität der europäischen Integration". Diese Finalität gründet aus seiner Sicht in der Schaffung einer "Föderation" der europäischen Staaten.

Konkret meint dies "nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben". Dieses Parlament soll nach Fischers Vorstellungen über zwei Kammern verfügen, wobei eine Kammer durch gewählte Abgeordnete besetzt wird, die zugleich Mitglieder der Nationalparlamente sind. Im Hinblick auf die zweite Kammer werde man sich zwischen einem Senatsmodell mit direkt gewählten Senatoren der Mitgliedstaaten oder einer Staatenkammer analog unseres Bundesrates entscheiden müssen.

Auf europäischer Ebene, so Fischer jüngst in einem Interview, sollten die Kernsouveränitäten konzentriert sein: innere Sicherheit, äußere Sicherheit, Währungssouveränität und alles, was nur in Brüssel gelöst werden könne. Fischer beeilt sich zu versichern, daß die Nationalstaaten fortexistieren und eine stärkere Rolle einnehmen werden als zum Beispiel die Bundesländer in Deutschland. Das "Prinzip der Subsidiarität" soll in einer derartigen "Föderation" Verfassungsrang haben.

Fischer hat in seiner Rede mehrfach darauf hingewiesen, daß er seiner Privatmeinung äußere. Schon der Ort der Rede, die Humboldt-Universität Berlin, die ein öffentliches Gebäude ist, widerspricht Fischers relativierender Einlassung. Die Reaktionen aus dem Ausland waren entsprechend. Hier wurde Fischers Rede als Rede des deutschen Außenministers verstanden. Insbesondere aus Frankreich und Italien war Zustimmung zu hören.

Dabei hat Fischer wenig Neues vorgetragen. Alle wesentlichen Gedanken seiner Rede finden sich bereits in seinem 1994 veröffentlichten Buch "Risiko Deutschland". Dieses Buch hat vor allem eine Botschaft: Deutschland muß sich europäisch einbinden. Im "obersten deutschen Interesse" soll die "Europäisierung Deutschlands" liegen, um so den "Gefahren der Mittellage und der latenten Hegemonie" entgehen zu können.

Unverblümter drückte es Fischer in einem Interview in der Zeit im November 1998, kurz nach seinem Amtsantritt, aus: "Die Westbindung war für mich die unerläßliche Rückversicherung gegen den deutschen Nationalismus". Es greift nicht zu weit, wenn man feststellt, daß Fischer seine Außenpolitik ausschließlich aus der "Unheilsgeschichte" der Deutschen ableitet. Deswegen seine Aussage in dem Zeit-Interview: "Die wichtigste Veränderung ist, daß sich nichts verändert in den Grundlagen der deutschen Außenpolitik". Was diese Grundlagen sein sollen, daran hat Fischer niemals einen Zweifel gelassen: Westbindung, Integration, Selbstbescheidung, zurückhaltender Grundton, Absage an jeden deutschen Sonderweg, Einsatz für Menschenrechte.

Die konsequente Verfolgung dieser Grundlagen deutete Fischer in dem oben angesprochenen Spiegel-Interview als im "nationalen Interesse liegend". Reicht der Verweis auf diese Grundlagen nicht aus, werden diese bei Bedarf durch vermeintliche "ökonomische Interessen" ergänzt. So sei laut Fischer die EU-Osterweiterung im "nationalen Interesse", weil sie für Deutschland "gewaltige" Wachstumsmöglichkeiten eröffnen soll. Skeptikern und kleinkarierten Bedenkenträgern, die vor den finanziellen Konsequenzen der Osterweiterung warnen, hält Fischer entgegen, daß "sie sich an den Interessen und an der Zukunft unseres Landes" versündigten. Fischer dreht den Spieß einfach um: Nicht diejenigen verträten nationale Interessen, die beckmesserisch die finanziellen Folgen der EU-Erweiterung durchrechneten, sondern die, die mit großzügigen Strichen an der Vision "Gesamteuropa" arbeiteten. Daß die Realisierung dieser Vision vor allem für Deutschland enorme Kosten nach sich ziehen dürfte, stellt Fischer nicht in Abrede. Diese Kosten würden sich aber, dessen ist sich zumindest Fischer sicher, auszahlen.

Keine Frage: Das "rechte", "konservative Lager", mit dem sich Fischer in seinem angesprochenen Buch übrigens kenntnisreich beschäftigt, hat diesen Visionen derzeit wenig mehr als Ablehnung entgegenzusetzen. Diese Ablehnung zielt auf den Kern der europäischen Veranstaltung: der Lebenslüge von der deutsch-französischen Kooperation nämlich. Ausgerechnet dem Ex-Sicherheitsberater der Regierung Kohl, Joachim Bitterlich, ist es zu verdanken, daß diese Lebenslüge in allen ihren Facetten offenbar wurde. Bitterlich ist Herausgeber des Buches "Schwierige Nachbarschaft am Rhein" (1998) des im Februar 1995 verstorbenen deutschen Diplomaten Werner Rouget, der zuletzt in Paris tätig war und als exzellenter Kenner der deutsch-französischen Geschichte angesehen werden muß. Rouget stellt die Wirtschafts- und Währungsunion zuvorderst als einen "Ausgleich für die Wiedervereinigung" im Sinne der nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgten französischen Strategie der "Europäisierung der deutschen Frage" dar. Maastricht sei eine französische Initiative, "um die durch die Beseitigung der deutschen Teilung geschaffene ’Unsicherheit’ durch das neue Instrument ’Europa’ zu begrenzen, nachdem das klassische Instrument französischer Deutschlandpolitik, die Politik des Gleichgewichts durch Allianzen, keinen Partner mehr fand".

Ähnlich illusionslos wie Rouget skizziert der Albright-Mentor Zbigniew Brzezinski die französischen Interessenlage in seinem Buch "Die einzige Weltmacht". Brzezinski stellt zunächst fest, daß das Ziel der französischen Außenpolitik die Schaffung eines von Frankreich geführten vereinigten und unabhängigen Europas sei. Dieses Ziel könne Frankreich allerdings nur dann erreichen, wenn die Einigung Europas unter französischer Führung mit einem "Abbau der amerikanischen Vorrangstellung auf dem Kontinent" einhergehe. Dazu benötige Frankreich zwangsläufig deutschen Beistand, was aber aus französischer Sicht unweigerlich zu einem Dilemma führe, daß Brzezinski wie folgt beschreibt: "Wie läßt sich die deutsch-französische Partnerschaft als ökonomisch-politischer Motor der europäischen Einigung erhalten und dabei eine deutsche Führung in Europa verhindern?"

Ein von französischen Interessen dominiertes Europa kann aber nicht zukunftsfähig sein. Genausowenig wie das Denken von Politikern, deren ganzes Sinnen und Trachten im Kern darum kreist, wie auf alle Ewigkeit verhindert werden kann, daß von deutschem Boden jemals wieder ein politischer Eigenwille ausgeht. Darin zeigt sich Fischer als gelehriger Schüler Helmuts Kohls, der den französischen Hegemoniebestrebungen bis hin zum Verzicht auf die D-Mark jedes denkbare Opfer brachte.


 
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