© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Der Humanismus ist in der Krise
Die Bioethik vertritt jeden Standpunkt – und sein genaues Gegenteil
Alain de Benoist

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der kognitiven und molekularen Revolution sein. Was die breite Bevölkerung davon bislang wahrnimmt – künstliche Fortpflanzung, Klonen und genetisch veränderte Organismen –, ist nur die Spitze des Eisbergs. Über kurz oder lang wird aber kein Aspekt ihres täglichen Lebens unberührt bleiben. Allein die Entschlüsselung des menschlichen Genoms eröffnet unermeßliche Perspektiven. Da die verbreitetsten Krankheiten allesamt eine genetische Komponente haben, könnte die Patentierung von Medikamenten, die auf der Ebene der Proteine wirken, weltweit Hunderten von Millionen Menschen helfen.

Die Genmanipulationen, die Gentherapie und die Herstellung künstlicher Chromosomen stecken alle noch in den Kinderschuhen. Dasselbe gilt für künstliche Intelligenzen, deren Existenz die Grenze zwischen Lebewesen und Maschinen zu verwischen droht. Die Kapazität von Mikroprozessoren hat sich bisher alle 18 Monate verdoppelt. Bald werden wir über Maschinen verfügen, deren gewaltige Leistungsstärke die jedes menschlichen Gehirns um ein vielfaches übertrifft. Momentan ist nicht abzusehen, wie sich die Beziehungen zwischen ihnen und uns gestalten könnten. Diese Entwicklungen verlaufen so rasant, daß in Frankreich die gesetzlichen Regelungen der Bioethik alle fünf Jahre überarbeitet werden müssen.

Als 1997 das Schaf Dolly erfolgreich geklont wurde, durften wir erleben, wie sämtliche moralischen Autoritäten unseres Planeten, von der Unesco bis zum Europa-Parlament, feierlich versicherten, es sei "unvorstellbar", daß in Zukunft auch Menschen geklont werden könnten. Zwei Jahre später hat man diesen Standpunkt schon preisgegeben. In Frankreich segnet der Staatsrat Versuche an überschüssigen Embryonen ab, die für in-vitro-Befruchtungen eingefroren wurden. Das amerikanische Gesundheitsministerium erlaubt die Verwendung undifferenzierter Embryonalzellen, die in naher Zukunft die Herstellung menschlichen Gewebes zu medizinischen Zwecken ermöglichen wird. Mit anderen Worten: Therapeutisches Klonen ist schon heute zulässig. Das Klonen zu Fortpflanzungszwecken wird nicht lange auf sich warten lassen.

Die Institutionen der Bioethik stehen der Revolution hilflos gegenüber, die sich hier abzeichnet. Sie bemühen sich um klare Richtlinien, was wünschenswert ist und was nicht, scheitern aber an dem Versuch, verbindliche Kriterien aufzustellen. Sie behaupten, die "Würde der menschlichen Person" achten zu wollen, haben aber größte Schwierigkeiten, festzustellen, worin genau der Schaden liegt, den das Klonen der Hoheit, der Einzigartigkeit oder der Autonomie der Person zufügen kann. Sie reden von dem "Risiko eugenischer Entgleisungen" und übersehen, daß die Eugenie schon längst durch die Hintertür in unseren moralischen Alltag Einzug gehalten hat – infolge des freien Marktes, der zwischen dem Angebot der Wissenschaft und der Nachfrage junger Paare besteht. Sie schützen hohe Prinzipien vor, um ihre vorgefaßten Meinungen zu untermauern. Im besten Fall begnügen sie sich damit, die Geschäftsmänner und die Priester gleichermaßen zu vertrösten, indem sie "Besinnungsaufschübe" fordern und einen vorsichtigen Argumentationskurs zwischen Können und Sollen fahren. Dieses ganze Geschwätz dreht sich ständig im Kreis. Zwischen optimistischem Wissenschaftsglauben und der "Heuristik der Angst" (Hans Jonas) vertritt die Bioethik jeden Standpunkt und sein genaues Gegenteil. So ist die Definition des Embryos als "potentieller Person" offenbar geeignet, sowohl Abtreibungen als auch die Würde des Fötus zu rechtfertigen!

Die Mitglieder solcher Kommissionen laufen allerorts auf ihre Widersprüche auf. Bis vor kurzem war die Genetik als menschliches Schicksal ihr größter Alptraum, heute ist es die Aussicht, daß der Mensch sein genetisches Schicksal beeinflussen kann. Dieselben Stimmen, die Abtreibungen befürworten, protestieren nun gegen die Verwendung von Embryonen zu Versuchszwecken. Wie läßt sich auch erklären, daß das menschliche Wesen von der Empfängnis an Anspruch auf die Menschenrechte hat, daß daraus aber nicht unbedingt das Recht folgt, geboren zu werden? Wie kann man das Individuum in der freien Wahl seiner Fortpflanzungsmethoden einschränken wollen, wenn man doch der Meinung ist, dieses Individuum sei vor allem anderen frei und autonom? Im Namen welcher Werte kann man Eltern das Recht verweigern, Kinder zu bekommen, wie sie wollen, wenn man der Frau das Recht zugesteht, Kinder zu bekommen, wann sie will? Wie soll man von der Warte der Menschenrechte aus argumentieren, wenn man das traditionelle, metaphysische Menschenbild für obsolet hält? (Roger-Pol Droit entblödet sich tatsächlich nicht zu schreiben, man könne "die Würde der Person respektieren, obwohl man überzeugt ist, daß Personen nicht existieren – darin liegt kein Widerspruch"!) Die Mitglieder der Bioethikkommissionen können sich in keine Richtung vorwagen, solange sie in der Frage der Definition des "lebenswerten Lebens" neutral bleiben wollen. Sie bemühen sich um die Aufstellung universeller Regeln, die keiner partikulären Ethik entspringen, und sind sich offenbar nicht einmal bewußt, daß sie damit eine Quadratur des Kreises anstreben.

Am Ende hängt bei ihnen alles an moralischen Urteilen, deren ebenso beschwörerische wie schulmeisterliche Verkündung darüber hinwegtäuschen soll, daß sie sich auf keinerlei Grundlage stützen können. Man kann sich gar nicht bewußt genug machen, wie atemberaubend dieses Paradox tatsächlich ist: Die Moderne, die zu Zeiten der Aufklärung dem "Aberglauben" mittels der "wissenschaftlichen Vernunft" Herr zu werden gedachte, findet sich heute angesichts der Fortschritte in den neuen Wissenschaften auf denselben "religiösen" Standpunkt zurückgeworfen, den sie in ihrer Anmaßung längst überkommen geglaubt hatte.

Peter Sloterdijk hat vor einigen Monaten (JF 39, 47/99) den Zorn der herrschenden Hypermoralisten auf sich gezogen, weil er auszusprechen wagte, daß die genetische Selektion keine Phantasie mehr ist, sondern Wirklichkeit, und daß der klassische Humanismus ihr nichts entgegenzusetzen hat, weil – wie schon Heidegger feststellte – das Humane heute nicht mehr die Lösung, sondern das Problem ist. Der Humanismus geht von einem Menschen aus, der seine Umwelt beherrschen kann – inzwischen ist gerade die Beherrschung dieser Beherrschung zum Problem geworden. Der Humanismus setzt seine Hoffnung in die Bildung, die nichts anderes ist als eine Form der Erziehung, während sich eine Grundsatzdebatte "über verschiedene Arten der Menschenzüchtung" erhebt.

Peter Sloterdijk stellt gute Fragen. Anstatt ihm Antworten zu geben, hat man es vorgezogen, ihn anzugreifen. Seine Fragen verschwinden dadurch nicht. Mit Moratorien und Betroffenheit werden sie sich ebenfalls nicht lösen lassen. Erforderlich ist statt dessen eine grundsätzliche Reflexion der Natur der Technik und der neuen Macht des Menschen. Die kognitive und molekuläre Revolution des 21. Jahrhunderts eröffnet faszinierende Perspektiven, birgt aber auch Risiken in sich (die Verdinglichung der Person und die Patentierung des Erbguts). Gerade deswegen darf man nicht zulassen, daß sie unter der alleinigen Kontrolle eines Systems abläuft, das in der Forschung lediglich einen Profitmotor sieht.

Wissenschaft denkt nicht selber, aber sie kanalisiert Denkmuster: Man kann an ihr vorbei und um sie herum denken, aber nicht gegen sie. Ob es uns paßt oder nicht, die "biopolitische" Frage ist zum Kernproblem der philosophischen Reflexion geworden. Die kulturelle Evolution, die in der Spezies Mensch an die Stelle der biologischen Evolution getreten ist, ist dabei, ihren Platz wieder zu räumen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verfügt die Menschheit über die Mittel, sich als Spezies zu verändern. Und je mehr sie sich als Spezies begreift, desto eher stößt sie an ihre Grenzen. Auf die Frage: "Was für eine Art Menschheit wollen wir sein?" ist mehr als eine Antwort denkbar.


 
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