© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
Traditionsbruch
950 Jahre Quirinus-Verehrung in Neuss
Manfred Müller

Mit diesem Text werden Kinder bis heute indoktriniert." So empörte sich der Neusser Monat (NM 2/00) über das traditionelle Lied zum heiligen Quirinus, der als Schutzpatron der niederrheinischen Stadt Neuss gilt. Anlaß ist das diesjährige Quirinus-Jubiläum, die seit 950 Jahre bestehende Verehrung des legendären römischen Stabsoffiziers und Märtyrers Quirinus. Für Katholiken bietet St. Quirin bis heute Zufluch in den Bedrängnissen des Lebens, "in Armut, Trübsal, Angt und Not, in Krabnkheit, Teuerung, Krieg und Tod", wie es im Quirinus-Lied heißt. Sein Standbild auf der Ostkuppel des Neusser Münsters ist weithin sichtbar.

Der Neusser Monat ist ein Volksfront-Magazin, herausgegeben und gestaltet von Kommunisten sowie marxistischen Sozialdemokraten und Grünen, für die Religion immer noch im Verdacht steht, "Opium des Volkes" zu sein. So schlug der Neusser Monat zum Beispiel vor vier Jahren ironisch-zynisch vor, das spätromanische Neusser Quirinus-Münster, in dem die Gebeine des hl. Quirinus seit einer Schenkung durch Papst Leo. IX. an das Stift ruhen, in eine Moschee umzuwandeln, und zeigte gleich im Bild, wie man sich das vorstellte: das Standbild des hl. Quirinus von der barocken Vierungskuppel entfernt und alle Türme verziert mit dem islamischen Halbmond. Dies zu einer Zeit, als sich in der Bürgerschaft zaghaft Protest regte gegen den Plan eines türkisch-islamischen Kulturvereins, in einem Neusser Vorort eine Moschee zu errichten – ein unübersehbares Zeichen dafür, daß der Islam sich in dieser ehemaligen Hochburg des rheinisch-deutschen Katholizismus einwurzeln will. Der Moscheebau, eifrig gefördert von der CDU-dominierten Neusser Ratsmehrheit und Stadtverwaltung, führte zur Überschuldung des Kulturvereins. Nun bemüht sich das Neusser Stadtoberhaupt mit Bettelbriefen bis in die Türkei, dem Kulturverein bei der Entschuldung zu helfen.

Am Beispielfall Neuss läßt sich trefflich zeigen, wie der Säkularisierungsschub in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Auswirkungen der Kulturrevolution von 1968 eine alte katholisch-konservative Bastion unterminiert haben. Der Traditionsbruch ist unübersehbar. Im Kulturkampf der Bismarck-Ära und im Weltanschauungskampf des Dritten Reiches galt Neuss als ein Bollwerk des politischen Katholizismus, der aus der Glaubensüberzeugung und Glaubenspraxis des katholischen Bevölkerungsteils (im Dritten Reich 90 Prozent) seine Durchschlagskraft gewann. Die glaubenstreuen Katholiken waren keineswegs vaterlandslose Gesellen. Schon 1475 trotzten die Neusser, im Vertrauen auf den hl. Quirinus und auf das Entsatzheer Kaiser Friedrichs III., dem burgundischen Ansturm, als Herzog Karl der Kühne durch seine Eroberungspolitik ein Großburgundisches Reich schaffen wollte. 1923 verweigerten sich die Neusser den rheinischen Separatisten. In den zwanziger und dreißiger Jahren sangen die Neusser Schützen bei ihren Generalversammlungen stets "O Deutschland, hoch in Ehren, du heil‘ges Land der Treu..." Von dieser betont vaterländischen Haltung zeugen heute noch patriotische Beschriftungen von Schützenfahnen, noch stärker fallen bei diesen Fahnen religiöse Inschriften und Bildmotive auf.

Traditionselemente und gelebte Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander. Nur noch rund 15 Prozent der Neusser Katholiken nehmen an der Sonntagsmesse teil. Bei der traditionellen Quirinus-Prozession zählt man noch maximal 500 Gläubige. Kaum ein Neusser Jugendlicher kennt noch – trotz der gegenteiligen Behauptung des Neusser Monat – das Quirinus-Lied.

Dennoch urteilte Regionalbischof Friedhelm Hofmann: "Neuss ist im Gegensatz zu Düsseldorf und Köln noch eine katholische Stadt." Dies gilt nur sehr bedingt. Die kleinstädtische Mentalität der meisten Neusser mag dazu beigetragen haben, daß der Säkularisierungssog sich weniger stark ausgewirkt hat als in Köln und Düsseldorf. Auch findet man in der Parteipolitik, im Pressewesen und im karitativen Bereich in Neuss noch etwas stärkere katholische Spuren als in den rheinischen Metropolen. Ob allerdings in der jungen Generation noch genügend katholische Substanz vorhanden ist, auf daß auch in den kommenden Jahrzehnten die Kirche eine wichtige Rolle im Bewußtsein der Bürger spielen kann, ist fraglich.

Die Kirche begeht das Quirinus-Jubiläum mit einer Geistlichen Woche, die Kommune mit einem Quirinus-Stadtfest. Es bleibt zu hoffen, daß dabei die Besinnung auf die rheinisch-deutschen und christlichen Wurzeln dieser traditionsreichen Stadt nicht zu kurz kommt.


 
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