© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/00 12. Mai 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Die letzte baltische Morgentoilette
Carl Gustaf Ströhm

Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga hat zwischen Moskau und dem Baltikum einen Sturm entfacht. Mit "entwaffnender" Offenheit sagte sie, die "Rhetorik" Moskaus werde zunehmend aggressiver und könne zu einer Gefahr für die Nachbarn werden. In einer später abgeschwächten Version soll sie sogar gesagt haben, Rußland sei in der Lage, die drei baltischen Staaten militärisch zu besetzen, noch bevor die drei Präsidenten ihre Morgentoilette beendet hätten – und der Westen werde nichts unternehmen.

In einer offiziellen Erklärung sagte die lettische Präsidentin zwar, daß jeglicher Angriff Rußlands auf die baltischen Staaten schwerste Folgen für die europäische Stabiliät haben müsse und in seinem Wesen einen Angriff gegen die Nato darstelle. Aber genau an diesem Punkte spießt sich die Geschichte: die baltischen Staaten sind bis zum heutigen Tag nicht in die Nato aufgenommen worden. Trotz allgemeiner Zusagen – etwa der USA –, wonach die Türen des Bündnisses für die Balten "offen" seien, gibt es noch immer keinen konkreten Zeitplan. Das einzige, was die baltischen Staaten in Händen haben, ist eine amerikanische Erklärung, die Unabhängigkeit und Sicherheit der drei unterstützen zu wollen. Im "Ernstfall" allerdings verpflichtet eine solche Erklärung zu nichts.

Inzwischen setzt Rußlands Präsident Putin beunruhigende Zeichen: Zum ersten Mal seit der Rückgewinnung der Unabhängigkeit Estlands wurde am 8. Mai am Denkmal der sowjetischen "Befreier" auf dem Antonisberg von Tallinn/Reval ein offizieller Moskauer Kranz im Namen Putins niedergelegt. Die Esten bereuen inzwischen bitter, daß man 1991 "vergessen" hatte, diese Statue zu demontieren. Ein estnischer Versöhnungsversuch, die russische Seite zu einer gemeinsamen Gedenkfeier für alle Gefallenen des zweiten Weltkrieges einzuladen, wurde schroff abgewiesen. Der russische Botschafter sagte seine Teilnahme ab, weil dort neben den sowjetischen "Befreiern" auch die gefallenen Esten geehrt werden sollten: Sie trugen – oft unfreiwillig – die Uniform der Waffen-SS.

Der russische Außenminister Igor Iwanow begann – gewiß nicht ohne einen Seitenblick auf westliche Kreise – die "Faschismus-Keule" gegen die Balten zu schwingen. Anläßlich der Verurteilung eines ehemaligen Sowjetfunktionärs durch ein lettisches Gericht – wegen Kriegsverbrechen im Jahre 1944 – sagte Iwanow, die russische Außenpolitik widersetze sich entschlossen allen Versuchen, den "Faschismus zu rehabilitieren" und "unsere Landsleute, die antifaschistischen Kämpfer" zu verfolgen.

Dem bewährten Geheimdienstmann Putin ist ein gewisses Zögern des Westens in der baltischen Frage natürlich nicht verborgen geblieben. Die Moskauer Taktik besteht nun darin, der irritierten, und schlecht informierten westlichen Öffentlichkeit ständig den angeblichen "Faschismus" der Balten vorzuhalten – und gleichzeitig auf diplomatischer Ebene den westlichen Regierungen – angefangen mit Washington – zu suggerieren, daß es sich nicht lohne, wegen dreier kleiner Staaten am Rande der Ostsee einen Konflikt mit Moskau zu provozieren.

Wenn es Moskau gelingen sollte, den Westen – gewiß auch mit Verlockungen – lahmzulegen und an der baltischen Frage zu desinteressieren, könnte der nächste Zug folgen: das Baltikum Schritt für Schritt in jene Moskauer Einflußsphäre zurückzuholen, aus der sich Esten, Letten und Litauer vor neun Jahren befreit haben. Das allerdings würde auch den Zusammenbruch der westlichen Positionen an der Ostsee bedeuten.


 
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