© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Hauptstadtleben im Frühling: Ritualisierte Gewalt am Tag der Arbeit
Der Mai ist gekommen
Ronald Gläser

Am 1. Mai dürfen in Berlin sämtliche Verkehrsregeln ignoriert werden. An diesem Tag erleben die Berliner ihre Hauptstadt live. Die Polizeibeamten sind dann mit Gewerkschaften, Neonazis und nicht zuletzt mit Krawallmachern beschäftigt. Der Tag endet mit dem alljährlichen Ritual am Tag der Arbeit: den Straßenschlachten in Kreuzberg.

In den Tagen vor diesem 1. Mai hatten der Senat und die Polizei wieder einmal versucht, die zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen per Gerichtsbeschluß zu unterbinden. Dabei war den Behörden wie üblich nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Letztlich wurde das Verbot der NPD-Kundgebung aufgehoben. Allerdings mußten die Rechten nach Hellersdorf ausweichen. Den Linksradikalen wurde eine Gegendemo untersagt, und auch ihr Umzug im Regierungsviertel mußte ausfallen.

Berlin-Hellersdorf – das ist der letzte Winkel im Ostteil Berlins. Hier fand mitten im Plattenbauviertel die Kundgebung des "nationalen Widerstands" statt. Unter dem Motto "Arbeit zuerst für Deutsche" fanden sich dort um die Mittagszeit über 1.000 Teilnehmer aus dem NPD-Umfeld ein. Die Polizei riegelte zwischen den Betonburgen den Platz hermetisch ab und hielt mit 2.300 Beamten die linken Randalierer in Schach. Diese hatten sich trotz des Verbots der Antifa-Gegendemonstration dort eingefunden. Am U-Bahnhof wurden die Politreisenden in Empfang genommen und je nach Erscheinungsbild vor oder hinter die Absperrung verwiesen.

Trotzdem sickerten einige Hundert Punker durch die Polizeikette und skandierten ihre Parolen. Die Polizei setzte sogar eine Pferdestaffel ein, um Rechte und Linke auseinanderzuhalten. Auf dem Podium sprachen mit Christian Worch und Friedhelm Busse zwei Größen aus der Rechtsaußenszene. Worch taufte den Bundeskanzler nach bester Harald-Schmidt-Manier in "Gerhard Kaschmir Schröder" um. Busse beklagte sich vor den "Volksgenossinnen und Volksgenossen" über das internationale Finanzkapital. Alles in allem verhielten sich die Rechten sehr diszipliniert. Und ein Skinhead demonstrierte echte Ordnungsliebe: Als ein lockerer Balken eines Zauns, gegen den er sich gelehnt hatte, umfiel, sah er sich peinlich berührt um und reparierte den "angerichteten" Schaden.

Auch die Linke ist gut organisiert und kampferprobt. Wenigstens ein Antifa-Geheimagent konnte hinter den feindlichen Reihen ausgemacht werden, der per Funktelefon Anweisungen "nach draußen" gab. Doch über kleinere Rangeleien gingen die Auseinandersetzungen nicht hinaus. Und für 100 Linke endete der Tag vorzeitig mit einer Festnahme durch die Polizei. Auch die Rückreise einer Gruppe Hamburger NPDler wurde durch die Polizei behindert. In anderen Städten brachte die NPD nach eigenen Angaben insgesamt weitere 3.000 Personen auf die Straße.

Gleichzeitig fand in einer Einkaufspassage das "Festival gegen rechts" statt. Der Bezirk, sämtliche Parteien und vielleicht 300 besorgte Bürger wollen zeigen, daß es in Hellersdorf immer noch Aufrechte gibt, die sich der "rechten Gefahr" widersetzen. Sogar Bundeskanzler Schröder und Innenminister Otto Schily haben sich in Briefen an den Bürgermeister für diese Veranstaltung eingesetzt. Und der indische Bürgermeister des Dorfes Altlandsberg vor den Toren der Stadt freut sich: "Es ist gut, daß CDU, SPD und PDS hier gemeinsam gegen rechts demonstrieren." Die Nationale Front besteht noch immer.

Am Nachmittag herrscht Ruhepause. Während sich die Autonomen am Hellersdorfer Dönerstand versorgen, werden die Polizeibeamten mit Fertig-essen beliefert. In Kreuzberg geht die erste, friedliche Kundgebung zu Ende. Die Betreiber der Lokale im Schmuddelbezirk nehmen die letzten Bestellungen auf, beginnen die Tische abzuwischen und die Stühle hochzustellen.

Als die Nachmittagssonne am Horizont verschwindet, haben sich bereits Hunderte gewalttätiger Linker eingefunden und das obligatorische Besäufnis gestartet. Unter den "Demonstranten" sind wieder viele junge, hübsche Mädchen und selbst Familienväter mit ihren Sprößlingen, die den Aufzug mit der Love Parade zu verwechseln scheinen. Die Polizeibeamten behalten alles im Auge. 6.400 Unifomierte sind angewiesen, die neue Strategie "Kommunikation statt Konfrontation" zu beachten. Vielleicht zahlt sich die Deeskalationsstrategie ja diesmal aus. Doch der friedlichen Mission der "Anti-Konflikt-Teams" der Polizei wird am frühen Abend durch fliegende Steine und Flaschen ein Ende gesetzt.

Bald darauf startet der Demonstrationszug mit rund 10.000 Teilnehmern. Die meisten Chaoten sind schon betrunken, also wird der "friedliche" Teil abgekürzt. Um 20.30 Uhr fliegen die ersten Steine und Flaschen. Der Tanz beginnt. Bald brennen die ersten Barrikaden. Wasserwerfer und Tränengas sollen die Chaoten zurückdrängen. Nach zwei Stunden sind 400 Personen dingfest gemacht und 200 Polizisten verletzt. Mit der Stadtreinigung, die bis zum Morgengrauen alles sauber gemacht hat, kehren Ruhe und Ordnung nach Kreuzberg zurück.

Tags darauf beginnt der letzte Akt des alljährlichen Spektakels. Die Akteure erheben Schuldvorwürfe gegeneinander. Der Innensenator fordert im Frühstücksfernsehen eine Verschärfung des Demonstationsrechts. Der Chef der Polizeigewerkschaft spricht sich im Radio dagegen aus. In Kreuzberg werden kaputte Fensterscheiben ersetzt. Der Spuk ist vorüber.


 
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