© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Archaisches
Bemerkungen eines Ethnologen zur Moderne
Philip Plickert

Wird der Untergang unserer Zivilisation nur Nachteile für die Menschen haben?" fragt Hans Peter Duerr ohne jede Ironie. "Ich bin davon überzeugt, daß sich im kommenden Jahrhundert die menschlichen Primärgruppen weiter zersetzen und daß sich das für Gemeinschaften typische Solidarverhalten nach und nach fast völlig auflösen wird." Nach Art der Kleinkinder würde der moderne hedonistische Narziß, kurz: der Typus Cohn-Bendit, nicht nur unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, sondern vielmehr "hemmungslosen Genuß" verlangen. Emotional verkümmert und von Sekten, Gurus und einem Psychotherapeuten-Heer umlagert, die sich seiner Neurosen annehmen - ist das die Zukunft des Menschen, einst geschaffen nach Gottes Ebenbild? Anything goes: Statt verbindlicher Werte herrscht Beliebigkeit, und der Preis für die Freiheit von allem Zwang und jeder Pflicht ist Langeweile, Einsamkeit und Angst?

Der Bremer Professor kennt sich aus mit untergegangenen Kulturen. Seit Jahren sucht er nach der 1362 bei einer Orkanflut im Wattenmeer versunkenen Stadt Rungholt, und er ist sich sicher, die mittelalterliche Friesensiedlung gefunden zu haben. Daß andere seine Ausgrabungen nicht anerkennen, ficht ihn wenig an. In dem Essay-Bändchen "Gänge und Untergänge" hat er seine Argumente nochmals zusammengetragen. Für den Erfolgsautor nicht nur eine willkommene Gelegenheit, seine Kollegen der archäologischen und ethnologischen Zunft mit wunderbarer Polemik vorzuführen. Der von einem Frankfurter Edelfeuilleton jüngst als "Dr. Seltsam" bezeichnete Wissenschaftler schreibt von den Geheimgängen des Lebens: Völlig spekulativ, aber spannend und mit detektivischer Akribie entwickelt er seine Theorie eines mittelalterlichen Tunnels von einem Heidelberger Wirtshaus in der Innenstadt hinauf zum Schloß.

"Wir wollen wieder staunen", erklärt Duerr in einem Interview das menschliche Bedürfnis nach Wundern, Geheimnissen, Transzendenz. "Also volle Kraft zurück ins Mittelalter?" entgegnet in gewohnt billiger Weise das Hamburger Magazin. Als fundamentalen Irrtum betrachtet Duerr die "Ideologie der Aufklärung (...), daß der fortschreitende Erkenntnisprozeß der Wissenschaft dazu beiträgt, dem Menschen ein beschwerde- und angstfreies Dasein zu bescheren." Den Überlebenden der von ihm prophezeiten ökologischen Katastrophe verheißt er ein zwar härteres, aber erfüllteres Leben als es ihre Vorfahren in jener kurzen Epoche hatten, die Moderne genannt wurde: "Ihr seid zu schnell gerannt für das Glück", zitiert er Nietzsche, "jetzt wo ihr müde werdet, holt das Glück euch ein!"

 

Hans Peter Duerr: Gänge und Untergänge, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, 119 Seiten, 16,80 Mark


 
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