© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
Verlorene Provinzen
Horst Bienek, der Chronist Oberschlesiens, wäre 70 Jahre alt geworden
Doris Neujahr

Leben und Werk des Schriftstellers Horst Bienek wurden gleich mehrfach von den tragischen Brüchen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert geprägt. Geboren wurde er am 7. Mai 1930 im oberschlesischen Gleiwitz als jüngstes von sechs Kindern. Sein Vater, früher Beamter der Deutschen Reichsbahn, war wegen eines Asthmaleidens pensioniert; die Mutter trug bis zu ihrem frühen Tod als Klavierlehrerin zum Lebenunterhalt bei. Die Eltern waren 1921 aus dem östlichen Oberschlesien, das in Folge des Versailler Vertrages an Polen fiel, nach Gleiwitz verzogen. Bieneks Kindheit spielte sich, nach seinen eigenen Worten, im Spannungsfeld "zwischen Katholizismus, Sexualität und Faschismus" ab.

Nach der russisch-polnischen Besetzung Schlesiens 1945 wurde Bienek als Demontage-Arbeiter zwangsverpflichtet, 1946 erfolgte seine Aussiedlung in die Sowjetische Zone. Er strandete zunächst im anhaltinischen Köthen, später arbeitete er als Redaktionsvolontär bei einer Potsdamer Zeitung. Bereits 1950 erschienen von ihm Gedichte in Peter Huchels berühmter Zeitschrift Sinn und Form. 1951 wurde er Schüler bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. Am 8. November 1951 wurde er verhaftet und von einem russischen Militärgericht wegen angeblicher Spionage und Antisowjethetze zu 25 Jahren Haft verurteilt. Bis 1955 mußte er in Workuta im Kohlebergbau arbeiten, ehe er durch eine Amnestie freikam und nach Westdeutschland ausreisen konnte.

Bereits ein Jahr später publizierte er wieder Gedichte, in der Anthologie "Lyrik 1956" von Hans Bender. Mit dem "Traumbuch eines Gefangenen" (1957), einer Sammlung von Lyrik und Prosa, versuchte er, die traumatische Haftzeit zu verarbeiten. Dieses Buch verschaffte ihm einen Platz in der vorderen Reihe der Nachkriegsautoren, seine streckenweise kafkaeske Atmosphäre beeindruckt den Leser heute noch.

Bienek wurde Literarischer Redakteur beim Hessischen Rundfunk und führte "Werkstattgespräche" mit der Elite der deutschen Nachkriegsschriftsteller. Er wirkte als Verlagslektor, Literaturkritiker, Filmautor und -regisseur sowie als Herausgeber.

Sein persönliches Schicksal schärfte seine Aufmerksamkeit und Sensibilität für die regimekritische Autoren Osteuropas, von denen viele nach Deutschland emigriert waren. 1972 gab er den Aufsatzband über "Solshenyzin und andere" heraus. In den achtziger Jahren äußerte er sich zornig über die Gleichgültigkeit und den Hochmut, die das bundesdeutsche Juste Milieu der polnischen Solidarnosc-Bewegung und anderen osteuropäischen Oppositionsgruppen gegenüber an den Tag legte.

In dem 1968 veröffenlichten Roman "Die Zelle" verarbeitet er nochmals seine Haftzeit. Es geht um einen Eingeschlossenen, der krank in der Gefängniszelle dahinvegetiert, ohne die Anklage zu erfahren: erneut eine kafkaeske Konstellation. Die einzige Perspektive des Eingesperrten besteht darin, "nur noch (als) faules, stinkendes, verwesendes Fleisch" weiter zu existieren. Der Begriff "Zelle" hat hier eine zweifache Bedeutung: Er bezeichnet einen in sich geschlossenen kleinen Raum und zugleich die kleinste selbständige Organisationseinheit des Lebens. 1972 verfilmte Bienek seinen Roman.

Der Höhepunkt von Bieneks literarischem Werk ist die "Gleiwitzer Tetralogie", mit der er als Chronist Oberschlesiens dauerhaft in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Er hatte jahrelang daran gearbeitet und dazu in großem Umfang Archivstudien, historische und landeskundliche Forschungen angestellt.

Die Romane "Die erste Polka", "Septemberlicht", "Zeit ohne Glocken" und "Erde und Feuer" erschienen zwischen 1975 und 1982. Sie spielen in den Jahren 1939, 1943 und 1945. Im vierten Band erscheint Gerhart Hauptmann, Schlesiens größter Dichter, höchstselbst als personifiziertes Paradigma eines deutschen Kulturbegriffs, der durch die NS-Zeit endgültig brüchig geworden ist. Vor allem aber ist die Tetralogie eine "Beschreibung deutscher Gesellschaft zu Beginn des Krieges – vom Rande aus gesehen".

Vom Rande, das heißt erstens vom äußersten Südosten des Deutschen Reiches aus, und zweitens aus der Perspektive der "kleinen Leute". Deren Selbstverständnis liegt häufig quer zu Sprach-, Kultur-, Staats- und ethnischen Grenzen, andererseits stärken ihr Opportunismus und Eigennutz das Regime. Der Romanzyklus ist ein großangelegter Versuch, aus dem Erleben und Erleiden jener Zeit heraus die Mentalität unter der Diktatur begreifbar zu machen. In der Verschlungenheit von Erinnerung, Recherche, Politik und Privatem sind die Einflüsse von William Faulkner und Thomas Wolfe spürbar, auch die Joseph Roths, dessen Diktum: "Die eigentlichen literarischen Provinzen sind die verlorenen Provinzen", auf Bienek einen tiefen Eindruck machte.

Der Roman-Zyklus wurde von der Literaturkritik gelobt, Bienek an die Seite von Günter Grass und Siegfried Lenz gestellt. In der Vertriebenenpresse wurde er dagegen kritisiert, dem Autor wurde vorgeworfen, das deutsche Gleiwitz zu stark polonisiert zu haben. Letztlich kollidierten dabei unterschiedliche Literaturbegriffe miteinander. Bienek hatte schon 1969 erklärt: "Ich glaube, daß unsere Literatur mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben muß. Und auch mehr mit unserer eigenen Geschichte. Dabei darf sie nicht nach einer platten Ideologie zu ihrer Widerspiegelung verkommen. Was wir brauchen, ist historische Wahrheit." Das hieß für ihn, auch das Verborgene, Verdrängte, Abwesende, nichtsdestotrotz aber Wirkungsmächtige sichtbar zu machen.

Irritierend wirkte, daß Bienek sich jede Sentimentalität und Idyllisierung entschieden verbot. In dem über vierzig Jahre nach der Vertreibung entstandenen Bericht "Reise in die Kindheit", der seinen ersten Besuch im nun polnischen Gleiwitz anläßlich eines polnischen Filmporträts über ihn schildert, hat Bienek von seiner Kindheit und Jugend erzählt, die ihm auch in der Retrospektive keinen Grund zur Verklärung bot. Noch beim Besuch der elterlichen Wohnung war das nachdrücklichste Gefühl das eines beklemmenden Stillstands der Zeit. "Ich war wie ein Schatzsucher, und alle meine Romane über die Kindheit waren nichts anders als die Suche nach dem Schatz der Heimat."

Der Versuch, das Gefühl der Heimatlosigkeit in der Beschwörung der Kindheit aufzuheben, stieß ihn darauf, daß die schmerzhafte Gebrochenheit seiner Biographie schon in der Gleiwitzer Kindheit angelegt war. So fügte er hinzu: "Als ich die Schatzhöhle schließlich fand, war sie leer." Eben diese schonungslose Synthese aus existentieller und persönlicher Tragik und kollektivem Schicksal macht seine "Gleiwitzer Tetralogie" zu großer Literatur.

Horst Bienek starb am 7. Dezember 1990 in München.


 
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