© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/00 05. Mai 2000

 
"Späterer Euro ist keine Lösung"
Der ehemalige Hamburger Finanzsenator und Landeszentralbankchef Wilhelm Nölling äußert sich zur Euro-Krise
Jörg Fischer

Herr Professor Nölling, beim Start der Europäischen Währungsunion (EWU) waren etwa 1,18 Dollar für einen Euro zu bezahlen, momentan sind es etwa 0,90 Dollar: Dies ist ein Wertverlust von über 20 Prozent. Kann der Euro sogar bis auf 0,70 Dollar fallen, wie Dieter Wermuth, Volkswirt bei der Tokai-Bank, mutmaßt?

Nölling: Das kann niemand wissen und ist in seriöser Weise auch nicht zu belegen. Für die Wertentwicklung des Euro sind solche Vorhersagen allerdings Gift und machen eine Beruhigung auf den Devisenmärkten noch schwieriger.

Was sind die Ursachen für die Euro-Schwäche?

Nölling: Trotz der erfreulichen Wirtschaftsaussichten unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zeigt sich, daß auch positive Faktoren die Beweger der Devisen- und Kapitalmärkte – und zunehmend auch die Bevölkerung – nicht mehr dazu veranlassen, an die Zukunft des Euro zu glauben. Man muß sich die Einschätzungen der Akteure an den Märkten klarmachen, um die Ursachen, das heißt die vielfältigen Ursachen unseres Währungsproblems zu verstehen. Das fängt damit an, daß sich die Auswirkungen der Nichtübereinstimmung von Währungsraum und politischer Zersplitterung dieses Währungsraums zeigen. Die zentrale Geldpolitik einer um Vertrauen ringenden europäischen Notenbank trifft auf sehr lebendige Nationalstaaten, die ihre Souveränität behaupten. Diese verfolgen ihre Interessen, sind egoistisch wie eh und je, sehr unterschiedlich entwickelt und strukturiert, haben zum Teil erhebliche Modernisierungsrückstände, sie streiten sich darüber, ob und wie sie den Euro stützen sollten, bringen eine einheitliche Zinsbesteuerung nicht zustande, erwecken den Eindruck, daß sie Reformen der Institutionen nicht hinkriegen. Diese "Kapitaldisponenten" spüren, daß es für das Ansehen Europas nicht gut ist, wenn zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres das Europäische Parlament die Kommission nicht entlasten will. Der Kommissionspräsident Prodi scheint noch schwächer als sein Vorgänger zu sein; die Bürokraten in Brüssel verselbständigen sich und erwecken den Eindruck, politisch schwer kontrollierbar zu sein. Die Behandlung Österreichs erfolgte ohne Augenmaß und ohne Beachtung der Konsequenzen für ähnliche Entwicklungen in der Zukunft, zum Beispiel in Italien nach den Regionalwahlen, die eine starke Rechtstendenz erkennen ließen. Nicht zuletzt ist die Osterweiterung der EU außerordentlich kompliziert und führt zu vielen negativen Schlagzeilen. Die Einbeziehung der aufzunehmenden Länder, die ein Drittel der Bevölkerung, aber weit weniger als 10 Prozent des EU-Sozialprodukts mitbringen, sorgt für Dauerauseinandersetzungen, die zwar höchstwahrscheinlich zur Aufnahme der wichtigsten Länder führen, aber großen Streit über Finanzierungs- und andere Modalitäten hervorrufen. Im Ergebnis werden die Schwierigkeiten in Europa über- und die Stabilitätsfortschritte unterbewertet, und das äußert sich leider in der ständigen Herabstufung des Euro im internationalen Kräftefeld.

Außer in Irland und Finnland gibt es in keinem EWU-Land bedenkliche Inflationstendenzen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat trotzdem am 27. April alle drei Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte erhöht, der Zinskorridor liegt nun zwischen 2,75 und 4,75 Prozent. Der Euro-Kurs hat sich zunächst nicht erhöht. War die Entscheidung trotzdem richtig? Können die erhöhten Zinsen jetzt die Konjunktur abwürgen?

Nölling: Die EZB steht mehr oder weniger allein und macht zunehmend einen eher hilflosen Eindruck, verstrickt sich dabei in Glaubwürdigkeitsprobleme. Erhöht sie die Zinsen, um Wechselkurspolitik im Wettbewerb mit dem Dollar zu machen, ohne daß Inflationsgefahren dies rechtfertigen, zieht sie sich den Vorwurf zu, Zielzonenpolitik zu betreiben, was sie in ihren Grundsatzerklärungen immer strikt abgelehnt hat. Andererseits besteht die Gefahr, damit das in Gang gekommene Wachstum zu beschädigen, und werden Konflikte mit Europas "großer Politik" unvermeidbar. Der Zentralbank wird wahrscheinlich auch nichts anderes übrig bleiben, als mit weiteren Zinserhöhungen "nachzuladen", was die Unsicherheit über Europas Zukunft erhöhen wird. Auf diese Weise kann die EZB kein Vertrauen aufbauen. Alle diese Punkte führen Kapitalanleger dazu, entweder aus Europa wegzugehen oder nicht herzukommen. So ist der Euro auf die Rutschbahn geraten und hat den Kampf gegen Dollar, Pfund und Yen erst einmal verloren. Mit einem großen Maß an Häme schauen zum Beispiel bestimmte Kreise in den USA auf unseren Versuch, in Europa eine dem Dollar ebenbürtige Weltwährung zu schaffen. Es ist unvermeidbar, daß jetzt negative massenpsychologische Prozesse in Gang kommen, und die sind in der Wirtschaftsgeschichte oft stärker gewesen als gut gemeinte Worte und positive Wirtschaftszahlen.

Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat vorgeschlagen, "unnötige" Dollar-Reserven der EWU-Zentralbanken zu verkaufen. Damit soll der Schuldenstand reduziert werden, und gleichzeitig sollen "Spekulanten" beeindruckt werden. Kann so der Euro-Fall gestoppt werden?

Nölling: Dieser Vorschlag zeigt nur, wie weit die Verwirrung derer geht, die uns allen im Zeichen dauernder Verschlechterung des Außenwertes des Euro immer wieder erzählt haben, daß der Euro in Kürze wieder aufwerten wird. Wenn er diesen Vorschlag wirklich gemacht hat, muß er den Verstand verloren haben.

Die Exportindustrie freut sich insgeheim über einen niedrigen Euro-Kurs, denn dadurch werden Exporte billiger. Die EWU-Binnenwirtschaft freut sich über den niedrigen Euro, denn dadurch werden Warenimporte – und damit potentielle Konkurrenz – verteuert. Ist das nicht zu kurz gedacht?

Nölling: "Insgeheim" ist falsch, die Freude wird offen gezeigt, und es sind auch und gerade die Politiker, wie auch Gewerkschaften und Unternehmer, die glauben, ein schwacher Euro könnte gut als Superbenzin den europäischen Wachstumsmotor stärker beschleunigen. Abgesehen davon, daß höhere Preise für Importe der EZB Argumente für Aktionismus liefern, ist auch der Opportunismus zu kritisieren: Erst wurde uns ein starker Euro versprochen, und nun richtet man sich auf einen schwachen ein. Wie läßt sich auf diese Weise Vertrauen der Bevölkerung begründen?

Welche Gefahren birgt ein langfristig niedriger Euro, außer hohen Rohölpreisen und teureren USA-Reisen?

Nölling: In den nächsten Monaten entscheidet sich, ob es zu einer dauerhaften Abneigung der Bevölkerung, bzw. Krise bezüglich unserer neuen Währung kommt; mit anderen Worten, ob der Ruf in der Öffentlichkeit nach Beibehaltung der D-Mark unüberhörbar wird. In Zeiten vollständiger Kapitalbeweglichkeit können die Bürger nämlich noch mehr als bisher mit ihren Bankkonten abstimmen, das heißt Dollars, Pfunde, Yen oder andere Währungen außerhalb der Eurozone kaufen, und zwar massenhaft. Das würde Europa Kaufkraft entziehen, die Zinsen treiben, das Wirtschaftswachstum treffen und die politische Stimmung verändern. Zum Glück kann die Opposition daraus wenig Kapital schlagen, denn sie hat den größten Anteil an der Abschaffung der D-Mark.

Könnte ein schlechteres Investitionsklima in der EWU-Zone als in den USA Ursache für die Euro-Krise sein? Sollten die Volkswirtschaften in der EWU -speziell in Deutschland, Italien und Frankreich- durch weitere "wirtschaftsliberale" Reformen "amerikanisiert" werden, wie Zentralbankratsmitglied Christoph Zeitler fordert?

Nölling: Europa, vor allem Deutschland, hat aus den verschiedensten Gründen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich zu wenig investiert. Die deutschen öffentlichen Investitionsdefizite sind zu einem erheblichen Teil "Maastricht- induziert". Der Finanzminister sollte jetzt Geld für eine Korrektur dieser Entwicklung locker machen, also die zu erwartenden erheblichen Einnahmeverbesserungen nicht nur in die Schuldentilgung lenken. Die private Investitionsschwäche hat viele Ursachen. Mit "Amerikanisierung" der Politik und unserer Lebens- und Arbeitsverhältnisse ist dies aus meiner Sicht nicht zu heilen, wohl aber mit einer guten Steuerreform und den Modernisierungen, deren Notwendigkeit nun wirklich nicht mehr bestritten werden kann. An dieser Stelle muß auch Herr Zeitler mal genau sagen, was er meint, damit Herr Ministerpräsident Stoiber im Bundestag entsprechende Anträge stellen kann.

Großbritannien ist bislang nicht Mitglied in der EWU. Der hohe Pfundkurs erschwert britische Exporte. Wie sollte, wie wird London reagieren?

Nölling: Der schwache Euro und das starke Pfund führen wie beim starken Dollar zum Aufbau schwerwiegender Einseitigkeiten und Abhängigkeiten in unserer Exportstruktur. Bei aller Begeisterung über die so entstehenden Beschäftigungs- und Wachstumsgewinne muß man die Rückschlagsgefahr sehen. Die ohnehin nicht sehr starke englische Industrie wird auf diese Weise "niederkonkurriert", was uns nicht gleichgültig sein darf. Diese Spaltung Europas – nicht zuletzt durch die Folgen der Währungsunion – sehe ich mit großer Sorge.

Dänemark und Schweden sind noch nicht in der EWU. Demnächst soll die Bevölkerung dort über einen Beitritt zur Währungsunion entscheiden. Wie wird sich ein Beitritt bzw. Nichtbeitritt für den Euro auswirken?

Nölling: Wahrscheinlich werden deren Regierungen "den Teufel tun" und für einen Beitritt ihrer Länder werben.

Griechenland – bislang kein Hort stabiler Währung – soll im Juni dem Euro-Club beitreten. Fällt dadurch der Euro noch weiter?

Nölling: Schwer zu sagen, genauso schwer, wie abzuschätzen ist, ob der Beitritt schon jetzt zu den Ursachen der Euro-Schwäche gehört.

Das Vertrauen der Deutschen in den Euro ist nach wie vor gering. Rächt sich jetzt, daß man die Sorgen eines großen Teils der Bevölkerung nicht ernst genug genommen hat? Die ganze Kritik an der Einführung des Euro wurde vor fünf Jahren von fast allen deutschen Parteien, Verbänden und Medien beiseite geschoben. Hatten die Kritiker damals nicht doch recht?

Nölling: Mit Ausnahme unserer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die das Gericht mit Hinweis auf die Zuständigkeit der Politik verworfen hat, hat es in Deutschland aus meiner Sicht keinen ernstzunehmenden organisierten Widerstand gegen die hochproblematische, viel zu schnelle Einführung des Euro gegeben. Das politische Establishment war so vernarrt in diese Idee, daß es kein Interesse an einer offenen und abwägenden Diskussion entwickeln mochte. Wir Kritiker haben auf die wirtschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten und Gefahren eindringlich und mit Argumenten hingewiesen, die jeder nachlesen kann, wenn er sich das Buch "Die Euroklage" beschafft und studiert.

Sollte die Einführung des Euro als alleiniges Zahlungsmittel in der EWU-Zone verschoben werden?

Nölling: Dieser Vorschlag könnte unter Umständen in einen Ausweg münden. Ich halte aber eine Verschiebung deshalb nicht für eine gute Lösung, weil sich ja an den grundsätzlichen Spannungen und Widersprüchen unserer zentralen Währungsordnung und dezentralen Wirtschafts- und Politikordnung nichts ändern würde. Es bleibt daran zu erinnern, daß die Unterzeichner des Maastrichtvertrages sich verpflichtet hatten, die Funktionsbedingungen für die Währungsunion vor dem Inkrafttreten der Währungsunion zu schaffen. Das ist aber nicht zufriedenstellend gelungen. Jetzt soll dies, nachdem die Währungsunion steht, unter dem Druck dieser Währungsunion nachgeholt werden. Die Befürworter des Euro setzen ausdrücklich darauf, daß die europäische Politik diesen Druck braucht, um handlungsfähig zu werden. Das ist mir immer als eine schreckliche, zutiefst undemokratische und kontraproduktive Vorgehensweise erschienen.

Der EWU-Vertrag enthält keinen speziellen Artikel über einen Austritt aus der Währungsunion. Ist ein solcher Schritt für Deutschland oder andere Länder möglich?

Nölling: Was tun? Wir sollten nicht erwägen, in die Zeit der Bundesbank-Hegemonie zurückzufallen. In diesem Sinne halte ich eine Renationalisierung der Währungspolitik für falsch. Allerdings sollte mein Vorschlag (der übrigens älter ist als die Maastricht-Verhandlungen) diskutiert werden, wenn der Ruf nach Alternativen zu realistischen Antworten zwingen sollte: Ich plädiere dann erstens für die Beibehaltung der EZB, zweitens für die Wiedereinführung des Europäischen Währungssystems und damit für die Beibehaltung der nationalen Währungen für eine Übergangszeit und drittens für die Entscheidung über die Zinsgestaltung und Geldversorgung eines jeden Teilnehmerlandes durch gemeinsame Willensbildung im multinational zusammengesetzten europäischen Zentralbankrat. So ließe sich ein funktionsfähiger und vertrauensbildender Kompromiß zwischen der europäisierten Geldpolitik einerseits und den Notwendigkeiten flexibler Antworten der Teilnehmerländer andererseits finden; diese würden Zeit gewinnen, ihre Reformen in demokratischer Weise voranzutreiben.

 

Prof. Dr. Wilhelm Nölling war von 1976 bis 1982 Finanzsenator der Hansestadt Hamburg. Anschließend bekleidete der SPD-Politiker von 1982 bis 1992 das Amt des Präsidenten der Hamburger Landeszentralbank.

Geboren am 17. November 1933 in Wemlighausen/Westfalen, dozierte der promovierte Diplom-Volkswirt von 1966 bis 1969 an der Akademie für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Von 1969 bis 1974 war Nölling Mitglied des Bundestages, bevor er 1974 seine Karriere als Senator in Hamburg begann. Nölling gehörte dem Quartett der Professoren an, die 1998 die "Euro-Klage" beim Bundesverfassungsgericht einreichten. Am 2. April 1998 wurde diese jedoch von Karlsruhe abgewiesen.

 

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