© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Pankraz,
H. Heißenbüttel und der Ernstfall des Krimis

In Berlin ist jetzt (dort, wo einst die "Wühlmäuse" wühlten) das "erste Kriminal-Theater Deutschlands" eröffnet worden, in dem nur noch Krimis und nichts als Krimis aufgeführt werden sollen. Gelegentlich soll es zusätzlich noch Matinees geben, bei denen bekannte Schauspieler aus ihren Lieblingskrimis vorlesen. Auf Dramaturgen will man verzichten, denn die Dramaturgie sei vorgegeben und immer wieder die gleiche: Mord, Ermittlung, Aufklärung, Mord, Ermittlung, Aufklärung.

Ob das Projekt Erfolg haben wird? Bedenkt man die ungeheure Masse von Krimis, die Tag für Tag via Fernsehen auf den Kulturkonsumenten losgelassen werden, mag man daran zweifeln.Warum soll jemand ins Theater gehen, wenn er jeden Abend Dutzende von Mordaffären zur Auswahl im Heimkino hat und mit soundsoviel Kriminalkommissaren gleichsam auf Duzfuß steht?

Der Fernsehkrimi ist dem Gemüt doch viel bekömmlicher als der Theaterkrimi, zu dem man sich extra auf die Socken machen muß. Wir möchten in unserem Alltag nichts mit Mord und anderen Verbrechen zu tun haben, möchten ihnen nicht den kleinsten Fuß oder Finger reichen, andererseits kann unser Seelenhaushalt offenbar nicht auf sie verzichten; also sollen beide Sphären, Alltag und Verbrechen, wenigstens reinlich voneinander geschieden bleiben, so wie es beim Fernsehen mit seiner totalen Fiktionalität der Fall ist.

Beim Theater ist die Fiktionalität bekanntlich weniger perfekt. Es sind Schauspieler aus Fleisch und Blut, die da vor unseren Augen anstößig agieren, manchmal treten sie nicht aus der Kulisse, sondern erheben sich urplötzlich aus unserer Parkettmitte, um sich von dort auf die Bühne zu begeben. Auch können wir nicht einfach gemütlich Bier trinken, während oben die scheußlichsten Taten passieren, wir fühlen uns spontan irgendwie mitbetroffen und subkutan zum Einschreiten aufgefordert.

Möglicherweise wird uns im nichttelevisionären Kriminaltheater peinlich bewußt, daß wir doch allesamt ziemliche Schweine sind, die sich am Verhängnis anderer ungeniert mästen. Denn um es zu wiederholen: Unser Seelenhaushalt kann auf Mord nicht verzichten. Was wir im Alltag von Grund auf verdammen, danach lechzen wir in der Fiktion. Was nicht getan werden darf, das soll uns wenigstens vorgespielt werden, und zwar immer und immer wieder. Sonst würden wir uns zu Tode langweilen.

Wenn besorgte Pädagogen dazu auffordern, es bei dem ewigen Verbrecherspiel doch wenigstens etwas "humaner" angehen zu lassen, weniger Leichen, vielleicht überhaupt keine, sondern nur ein bißchen Ladendiebstahl oder Unterschleif, so stoßen sie auf taube Ohren. Schon Helmut Heißenbüttel hat in einem luziden Essay über das Wesen des Kriminalromans überzeugend dargelegt, daß unbedingt der Mord am Anfang einer kriminalistischen Untersuchung stehen muß, das Urverbrechen, daß es im Krimi unbedingt um den Ernstfall gehen muß, dem wir im "realen Leben" so gern ausweichen. Nur der Ernstfall, der rätselhafte Ernstfall, lohnt die Aufklärung.

Ernstfall und Rätsel verschlingen sich. Der Ernstfall ist das Rätsel an sich, das "Halsrätsel", bei dem es eben um Leben oder Tod geht. Indem der Kommissar im Krimi den Mörder am Ende überführt, schlägt er eine Sehnsuchtssaite an, die in uns allen tönt: daß es nämlich möglich sei, das Rätsel aller Rätsel zu lösen und damit den Ernstfall, den Schicksalsfall, den Todesfall, aus der Welt zu schaffen. Genau deshalb wohl können wir an Krimis nicht genug kriegen. Jeder gelöste Fall liefert stets nur einen einzigen Ton zu einer Sonate oder Symphonie, die notwendig unvollendet bleiben muß.

So betrachtet ist der Krimi natürlich alles andere als eine literarische Verfallsform, knüpft vielmehr nahtlos an die erhabensten Traditionen an. Er repräsentiert so etwas wie die Sophoklestragödie im maschinellen Massenzeitalter – und darin läge dann seine eigene Tragödie. Der Fernseh- und Taschenbuchkrimi von heute gleicht jenen Minikopien berühmter Buddhastatuen, die in Ceylon oder Thailand im Einzugsbereich solcher Statuen maschinell zu Hunderttausenden hergestellt werden, um an die Pilger und Touristen verscherbelt zu werden. Er liefert lediglich schnell verblassende Erinnerung an ein großes Format, wird zur Travestie seines eigenen Genres.

Und trostloser noch: je massenhafter und maschineller er wird, desto weiter entfernt er sich von dem, was einst seinen Reiz ausmachte. Die Rätselstruktur wird immer dünner, dafür verdickt sich das Drum und Dran, das Lokalkolorit beispielsweise, das Sichanbiedern beim Massenpublikum durch dröhnende "Plots" und gemeine, ungebildete Redeweise.

Selbst anspruchsvollere neue Krimiverfertiger (aus Skandinavien etwa oder Italien) können einem Raymond Chandler oder einer Agatha Christie nicht mehr das Wasser reichen. Und was im Taschenbuch noch einigermaßen amüsant daherkommt, vergröbert sich im Fernsehspiel auf unerträgliche Weise. Das Medium fordert sein "Recht", pyromanische Knalleffekte treten an die Stelle von Pointen, widerwärtige Kriechereien vor der "political correctness" an die Stelle von witzigen Anspielungen.

Vielleicht kann das neue Berliner Kriminal-Theater den Niedergang etwas hemmen? Es verfügt ja nicht im entferntesten über die maschinellen und fiktionalen Möglichkeiten des Fernsehens, dafür dürfte sein Publikum, kann man sich vorstellen, erlesener und wählerischer sein als der durchschnittliche Fernsehzuschauer. Keine schlechten Voraussetzungen an sich für rätselvollere Morde und intelligentere, überraschendere Aufklärungen.

"Der Tugend gleich, hat auch Verbrechen seine Stufen", läßt Racine in seinem großen Ernstfall- und Aufklärungsstück "Phädra" sagen. Diese Stufen sollte auch der moderne Krimi irgendwann wieder betreten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen