© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Hochschulen: Für Millionen Studenten beginnt ein neues Semester
Sonnenplätze auf der Mensawiese
Moritz Schwarz

Der Frühling lockt mit leise erwachendem Licht und Leben. Aus winterkaltem Wind schält sich mit sanftem Säuseln der erste zarte Hauch. Die Sonne traut sich wieder, die Tage werden länger.

Der "Studiosus Germaniae", der deutsche Student, im Spätsommer des vergangene Jahres vom Sonnenfaultier zum Winterbrummbär mutiert, erwacht nun wiederum aus seinem Winterschlaf. Die Sonne kitzelt, die Lüftchen streicheln und weithin erschallt zu Beginn des Semesters der Ruf zu den Universitäten.

Und so strömt man nach genossenen Semesterferien zusammen, um – "Deutsche Jugend, bestes Streben"– harte Hörsaalbänke zu drücken, den Staub von Buchrücken zu blasen und die so lange verwaisten "Cafeten" (Studenten-Deutsch für "Cafeteria") wieder zu bevölkern. Flure füllen sich mit Gemurmel und Getrappel, Neonröhrenfeuer flackert auf in Hörsälen, und im Audimax startete wieder reger Papierschwalben-Flugverkehr der "Knilche von der letzten Bank" hinweg über die Reihen milchbärtiger Streber hinein in die holde Jungmädelschaft. Assistenten tummeln sich in Labors und Präparate-Kammern, wischen Tafeln, knipsen an Projektoren und leiern Tageslichtprojektor-Hälse auf und ab. Angekündigt solchermaßen betritt der titelgeschmückte "Praeceptor superior", Meister seines Faches und des professoral-pathetischen Gestus, das Studentenrund: Um mein Fach dreht sich die Welt! Professor Unrats strenge Stimme erschallt nun wieder täglich eineinhalb Stunden ohne Atemunterbrechung, und begrüßend erklingt der vertraute Zungenschlag: "Liebe Schöler!"

Stille bei den Erstsemestern, Murmeln bei den Grundstudenten, Fehlanzeige bei den Hauptstudenten. Der deutsche Hauptstudent kennt die Verhältnisse und hat sich eingerichtet, wie weiland der deutsche Frontsoldat auf seinen berühmten jahrelangen "bis-Weihnachten-sind-wir-wieder-zu hause"-Feldzügen. So nicht im Prüfungsstreß, läßt er sich von heimkehrenden nachbarlichen Schulkindern wecken, schlurft ungewaschen zu Aldi oder schleicht gleich zum Frühstück Mittagessen in die Mensa. Dort ist er rechtzeitig, bevor um halb zwölf die sittsamen Erstsemester aus den Vorlesungen strömen.

Und während jene vor den Markenschaltern sich zu langen Schlangen reihen ("Menü 1, 2 oder 3?" Pommes, Bratwurst, Mayo: 28jährige alleinstehender Physikstudenten. Öko-Bratling, Sprossen, Bio-Reis: 21jährige Germanistikstudentinnen), bohren sich die Altsemester genüßlich in den Zähnen und sind anschließend die ersten auf den noch raren sonnenwarmen Nickerplätzchen gleich neben dem Geschwister-Scholl-Stein auf dem Uni-Rasen. Aus Bibliotheken zieht man die Gerippe Lerneifriger, die den letzten Semestereinschluß versäumten haben. Und eine Atmosphäre strenger Strebsamkeit unterscheidet die völlige Stille der Vorlesungszeit von der völligen Stille der vorlesungsfreien Zeit. Vor allem aber stört sie den gesundheitlich so wervollen Bibliotheks-Schlaf der älteren Semester, die inzwischen an den Pulten weiterschlummern.

Während der erste Tag im neuen Semester sich dem Ende neigt, stehen studentischen Hilfskräfte erstarrt wie Salzsäulen in sich leerenden Fluren am Fotokopierer mit wochenlangen Tag-und-Nacht-Kopieraufträgen. Die Cafete leiert die Jalousie herunter, Putzlappen verteilen das Senf-Krümel-Fitmilch-Geschmiere gleichmäßig unauffällig auf den Cafe-Tischchen. Am frühen Abend endet die letzte Schicht der Spätnachmittagsvorlesungen in der Dämmerung. Die Gebäude leeren sich, der Campus verwaist, die Alt-Semester erwachen.

Murmelnd durchstreifen sie die leeren Gänge zum geheimen abendlichen Privatissimum mit dem verschworenen Zirkel der alten Herren der Professorenzunft: zu magischen Colloquien im Althebräisch des Rabbi Löw, zu verbotenen Versuchen im Labor für Atomphysik oder zu unnennbaren Experimenten in der Pathologie. Es ist Hexensabbat. Denn wissend kichernd sucht man zu erfahren, den dunklen Weg des Groß-Scholaren: Den Faden Fausts gilt’s fortzuweben: "Drum hab‘ ich mich der Magie ergeben... Auf, Schüler, unverdrossen – die Geisterwelt ist unverschlossen!"


 
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