© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Alternativen zu Hitlers Herrschaft
Werner Bräuninger: Strahlungsfelder des Nationalsozialismus
Werner Olles

Literatur, die sich mit unorthodoxen Strömungen des Nationalsozialismus, die von der Generallinie dieser politiko-religiösen Weltanschauung abwichen, objektiv und ernsthaft beschäftigt, ist hierzulande leider immer noch relativ dünn gesät. Dies liegt wohl auch daran, daß Autoren, die derartige Phänomene thematisieren, selbst in Gefahr geraten, bald unter Quarantäne zu stehen. Wer auf diesem Felde der Zeitgeschichte zwischen 1933 und 1945 die Komplexität steigern möchte, ist halt schnell ein "Relativierer" oder schlimmer: ein "Revisionist". Wer diesen Ruf gleichwohl nicht scheut, wird mit Erkenntnisfortschritten belohnt. So wie der Historiker Werner Bräuninger. Überraschende Perspektiven eröffnet etwa seine Darstellung der Pläne, die 1942 im SS-Führerkorps unter der Regie des Obergruppenführers und Generals der Waffen-SS Hildebrandt kursierten. Sie intendierten nicht weniger als einen radikalen politischen Kurswechsel zur Wiederherstellung des Rechtsstaates auf korporativistischer Grundlage.

Ebenso unorthodox, mit den imperialistischen Europa-Visionen Hitlers nicht vereinbar, waren die völkischen Konzeptionen einer Großraumordnung, wie sie Werner Best entwarf, der Polizeirechtler, Ministerialdirektor und Lebensretter Ernst Jüngers und Karl Otto Paetels. Von Best und den pragmatischen Ideen des Standartenführers Gunther d‘ Alquen führt Bräuninger hin zu der an esoterische und okkulte Wurzeln des NS anknüpfenden und im Auftrag von Himmlers "Ahnenerbe" durchgeführten Tibet-Expedition von Ernst Schäfer.

Werner Bräuninger hat sich also dem Diktat der Political Correctnes nicht gebeugt und sich der schweren Aufgabe unvoreingeommen und vorurteilsfrei gestellt , durch objektive Faktenbeschreibung zu beweisen, daß der NS-Staat in der Tat alles andere als ein monolithischer Block war, der von einer homogenen Führungsgruppe getragen wurde. Herausgekommen ist dabei ein Buch, dessen zehn Essays nicht nur eine Lücke in der bisherigen Erforschung der Zeitgeschichte füllen. Sie lassen vor allem auch etwas von der revolutionären Stimmungslage an den Rändern des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus ahnen. Und sie beleuchten die partiell polykratischen Strukturen, in denen undogmatisch denkende und handelnde Amts- und Funktionsträger für sich und ihre Ideen zwar eine Zeitlang ein paar Freiräume schaffen konnten, letztlich aber an den systemimmanenten Widersprüchen zum Teil tragisch scheiterten. Immerhin brachten diese Männer und Frauen, obwohl sie sich "im Konsens von Faschismus und Nationalsozialismus engagierten", "Licht in die Finsternis des Totalitarismus", wie Armin Mohler in seinem Vorwort schreibt.

Zudem wird in den umfangreichen Portraits deutlich, daß die Trennlinie zwischen Idealismus und Ideologie, revolutionärem Anspruch, ehrlicher Überzeugung, schuldhafter Verstrickung und Opportunismus bisweilen nicht so leicht zu ziehen ist, wie sich manch einer, dem gerade noch die "Gnade der späten Geburt" zuteil wurde, dies vorstellt. Bräuninger weist aber auch darauf hin, daß der totalitäre Aspekt des Nationalsozialismus sich keinesfalls in einem Raum vormoderner Irrationalität ereignete, sondern nur eine von zahlreichen Möglichkeiten der Moderne darstellte.

Der Autor schreibt in seiner Vorbemerkung, daß im "zwanzigsten Jahrhundert kaum ein Land Europas nicht der diktatorischen Versuchung erlag, ob in ihrer bolschewistischen oder faschistischen Gestalt". Dies zur Kenntnis zu nehmen und auch zu verstehen ist die Grundvoraussetzung dafür, sich mit den eigentlichen Anliegen der "Strahlungsfelder" geistig auseinanderzusetzen. So schildert Bräuninger detailliert die Planungen des Stabsamtsleiters in der Reichspropagandaleitung, Willi Krämer, zur Installierung eines Senats als Kontrollinstanz des NS-Staates, die Hitler zunächst selbst forcierte, aber spätestens 1943, als der Faschistische Großrat in seiner Eigenschaft als römischer "Senat" Benito Mussolini zum Rücktritt zwang, schnell zu den Akten legte.

Auch Joachim Haupt, der Inspekteur der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, scheiterte mit seinem Versuch, diesen ein Höchstmaß an Autonomie zu bewahren. Mißtrauisch beäugt und von NS-Hardlinern bedroht, weil er Herbert Blank, einem früheren Mitarbeiter Otto Strassers, eine Dozentur verschafft hatte, geriet er nach einem Gespräch mit Hamburger Pastoren der "Bekennenden Kirche", seiner Ablehnung Briefe mit "Heil Hitler" zu unterschreiben, und einer angeblichen Mißachtung Himmlers während einer Napola-Tagung endgültig ins Visier seiner Feinde innerhalb der NSDAP. Haupt wurde wegen nie bewiesener sexueller Kontakte zu Schülern von der Gestapo festgenommen, mußte wochenlang in einem vergitterten Käfig sitzen und wurde nachts stundenlangen Verhören unterzogen. Im Juni 1938 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, obwohl strafrechtlich erhebliche homosexuelle Handlungen nicht nachgewiesen werden konnten. Es war wohl vor allem der SS darum gegangen, die geistige Führung über die Napolas zu erlangen. Haupt betätigte sich seitdem als Bauer und Schriftsteller und nahm als Soldat an den Polen-, Norwegen- und Frankreichfeldzügen teil. Nachdem er bei einem Vortrag die Politik Hitlers kritisierte, retteten ihn Kameraden vor dem drohenden Kriegsgericht. Seinen Vorgesetzten wurde jedoch von der Partei untersagt, ihn zum Offizier zu befördern.

Weitere Essays befassen sich unter anderem mit Willi Koerbel, dem Hauptschriftleiter und Pressechef der Obersten SA-Führung, einem jener nationalen Sozialisten, "die Hitlers Herrschaftssystem zwar in höchsten Instanzen dienten, und die dennoch den Versuchungen der Hybris nicht erlagen"; dem deutsch-japanischen Jugendaustausch in den Jahren 1938 bis 1941; dem französischen Poeten Robert Brasillach, der im Januar 1945 als Kollaborateur in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und kurz darauf hingerichtet wurde, obwohl Cocteau, Claudel, Anouilh, Camus und Valéry ein Gnadengesuch eingereicht hatten; den Auseinandersetzungen um die künstlerische Moderne in Deutschland, als eine starke Fraktion um den Führer des NS-Studentenbundes und späteren Reichsfilmintendanten Fritz Hippler sich mit Unterstützung von Schriftstellern wie Gottfried Benn und in Anlehnung an Marinettis Futurismus vehement gegen die Zumutungen Alfred Rosenbergs zur Wehr setzte; der Nacht des Faschistischen Großrates, in der der Duce abgesetzt wurde; den europäischen Schriftstellerkongressen in Weimar 1941/42 und Gauleiter Gieslers Eklat vor der Münchner Studentenschaft.

Ein umfangreicher Anhang und ausführliche Anmerkungen vervollständigen nebst Personenregister und Bildnachweis das Buch. Auch wenn inzwischen – was zu begrüßen ist – immer öfter die Forderung vertreten wird, weniger über den Nationalsozialismus und mehr über die moralischen Mechanismen zu sprechen, die heute die Diskussion über ihn blockieren, zählt "Strahlungsfelder des Nationalsozialismus" doch zu jenen Büchern, die von der Zeitgeschichte beharrlich ignorierte oder gar verschwiegene Themen aufgreifen.

 

Werner Bräuninger: Strahlungsfelder des Nationalsozialismus. Die Flosse des Leviathan. Verlag Siegfried Bublies, Schnellbach 1999. 325 Seiten, geb., 39,80 Mark


 
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