© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/00 21. April 2000

 
Ohne die stützende Hand des Staates
Konservative Evangelische Kirchen als Alternative zur EKD erhalten immer stärkeren Zulauf
Ulrich Motte

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren", lautet eine übliche Übersetzung des 28.Verses des 11. Kapitels des Lukas-Evangeliums. Bewahren heißt lateinisch bekanntlich "conservare". Und konservative evangelische Kirchen sind folgerichtig definiert als Kirchen, die Gottes Wort als oberste Norm des Glaubenslebens bewahren.

Konservative evangelische Kirchen wenden damit den Grundsatz "sola scriptura" (Allein die Schrift) der Reformation an: Alle andere Erkenntnis ist der Bibel untergeordnet. Offiziell bekennen sich auch die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen zu diesem Grundsatz. In Wirklichkeit sind sie bibelkritisch, sehen weite Teile der Bibel als überholt an. Bibeltreue sehen nur jene Teile der Bibel als nicht mehr verbindlich an, die die Bibel selbst als nur für das alte Israel als unbedingt verbindlich ansah: Gottesdienstregelungen, sogenannte Zeremonialgesetze, und auch die Staatsgesetze des alten Israels.

Theologisch Konservative sind fast ausnahmslos in fast allen gesellschaftspolitischen Fragen ebenfalls konservativ. Konservative Protestanten gibt es in großer Zahl auch in der EKD. Daneben finden sie sich in sogenannten Freikirchen. Die einzige gemeinsame Eigenschaft aller Freikirchen in Deutschland ist, daß sie von Spenden statt von Kirchensteuern leben. Wer nur Kirchensteuer sparen will, ist aber bei Freikirchen nicht willkommen. Die Zahl der Freikirchen ist groß. Auch nur alle konservativen unter ihnen aufzuzählen, ist nicht möglich. Manche Freikirchen lehnen für sich die Bezeichnung "Freikirche" ab: Das gilt vor allem für Kirchen, die sich als kirchenrechtlicher Nachfolger evangelischer Landeskirchen sehen, da sie an die Stelle der vom wahren evangelischen Glauben abgefallenen Landeskirchen getreten seien.

Diesen Anspruch erheben auch die in den letzten Monaten erst entstandenen Bekennenden Evangelischen Gemeinden. Die meisten dieser etwa zehn Gemeinden stehen noch in der Gründungsphase, feiern zwar Gottesdienste, haben aber noch keine ordnungsgemäß berufenen Presbyter (Kirchenvorstände) und Pastoren. Sie haben sich zu einem "Rat Bekennender Evangelischer Gemeinden" zusammengeschlossen (Postfach 3203, 51666 Wiehl, Tel./Fax: 022 93 / 90 34 30) und einmütig ein für alle Gemeinden verbindliches Bekenntnis zusätzlich zu den Bekenntnissen der Reformation angenommen.

Die älteste der Gemeinden ist die Bekennende Evangelische Gemeinde Neuwied. Pfarrer der Gemeinde ist Jakob Tscharntke (Im Felster 10, 56567 Neuwied, Tel. 026 31 / 77 92 94, Fax 77 92 95). Pfarrer Tscharntke diente früher in der württembergischen Landeskirche, die ihn wegen seiner bibeltreu-konservativen Haltung von seinem Pfarramt suspendierte – wie eine ganze Reihe von EKD-Pfarrern.

Ein intellektuelles konservatives Zentrum bildet sich um die Bekennende Evangelisch-Reformierte Gemeinde Gießen, Pastor Jürgen-Burkhard Klautke, Dreihäuser Platz 1, 35633 Lahnau, Tel. 0 64 11/ 96 26 11, Fax 96 26 09. Dort ist auch kostenlos die Zeitschrift Bekennende Kirche zu erhalten.

Mehrere weitere Bekennende Evangelische Gemeinden stehen vor der Gründung. Konservative Gruppen, Gemeinschaften und Hausbibelkreise erhalten von allen genannten Stellen Unterstützung. Nicht alle Bekennenden Evangelischen Gemeinden machen den Austritt aus der EKD zur Bedingung für die Mitgliedschaft. Nicht zum Rat gehören die über 40 Gemeinden und "Predigtplätze" der Evangelisch-Lutherischen Freikirche (ELFK). Die ELFK (Präses Pastor Gerhard Wilde, Neudörfler Straße 9, 08062 Zwickau, Tel./Fax: 03 75 / 78 96 16) lehnt nämlich im Gegensatz zu den Bekennenden Gemeinden die Zusammenarbeit von Lutheranern und Reformierten (Calvinisten) ab. Weitere unabhängige konservative lutherische Gemeinden nennt die Lutherische Kirche der Reformation (Roland Sckerl, Leopoldstraße 1, 76448 Durmersheim, Tel./Fax: 0 72 45 / 8 30 62).

Wer nur Steuern sparen will ist nicht willkommen

Von allen Vorgenannten unterscheidet sich ein wenig die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), deren Bischof und Kirchenleitung in der Schopenhauerstraße 7 in Hannover sitzen (Postfach 69040, 730613 Hannover), Tel. 0511/ 55 78 08, Fax 55 15 88. Die SELK ist erstens viel größer, umfaßt rund 300 Gemeinden und Predigtorte in fast ganz Deutschland mit beinahe 40.000 Mitgliedern. Zweitens sind nicht alle Gemeinden der SELK als uneingeschränkt konservativ zu bezeichnen. Mancher SELK-Pastor ist etwa offen für gemäßigte Bibelkritik oder weibliche Pfarrer.

Als konservative "Mustergemeinde" der SELK gilt die von Pfarrer Gottfried Martens geleitete St. Marienkirche in Berlin-Zehlendorf (Riemeisterstraße 10-12, Telefon 030 / 8 02 70 34, Fax 80 90 30 13). Diese Gemeinde, eine von acht der SELK in Berlin, zeigt deutlich die auch in vielen anderen Gemeinden der SELK üblichen feierlichen Gottesdienstformen wie im Katholizismus: Kruzifixe, bunte Talare der Pfarrer, Kniebänke und Abendmahlsempfang auf Knien, Bischof und Pröpste, sehr formeller Ablauf des Gottesdienstes sind dafür nur Beispiele.

Ähnlich wie der Katholizismus lehren konservative Lutheraner, daß durch die Taufe eine geistliche Wiedergeburt geschieht, vereinfacht gesagt, man dadurch Christ wird, und daß die Empfänger des Abendmahls im wahren Sinn des Wortes wirklich Christi Leib essen und Christi Blut trinken. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Reformierten, die auch stärker den politischen und gesellschaftlichen Auftrag der Christen betonen. Wie die Lutheraner taufen auch die Reformierten Babys. Baptisten taufen dagegen nur Menschen, die sich bewußt als gläubig bekennen. Weiteres Kennzeichen der Baptisten ist, daß überörtliche Organisationen nur beratenden Charakter haben, während einige, nicht alle, lutherische und reformierte Konservative die Gesamtkirche etwas stärker betonen. Die baptistischen Ortsgemeinden werden meist auch noch stärker demokratisch durch die Mitgliederversammlungen geführt. Die Gottesdienste sind formloser und die Kirchengebäude sehr schlicht. Zahlenmäßig übertreffen baptistisch orientierte alle anderen konservativen Kirchen in Deutschland weit. Das hängt auch damit zusammen, daß die Zahl der in den letzten 25 Jahren zugewanderten Baptisten und Mennoniten einschließlich ihrer Kinder auf mehr als 200.000 geschätzt wird. Rußlanddeutsche Baptistengemeinden heißen oft Evangeliums-Christen. Fast einziger Unterschied zwischen Mennoniten und Baptisten ist die Ablehnung des Wehrdienstes durch fast alle Mennoniten. Die rußlanddeutschen Baptisten und vor allem Mennoniten sind im Lebensstil häufig recht streng. Einige von ihnen lehnen sogar Schminke und Schmuck ab, von Alkohol und Tabak zu schweigen. Vor allem weniger strenge Gemeinden ziehen auch immer mehr Nichtrußlandeutsche an. Ihr Organ ist die Jugendzeitschrift Dennoch, Amselfeld 1, 51709 Marienheide, Tel. 02 2 64 / 40 30 42, Fax 40 30 41. Auch viele nicht von Rußlanddeutschen gegründete, baptistisch orientierte Gemeinden nennen sich nicht baptistisch. Ein Grund dafür ist, daß die Gemeinden der rund 80.000 im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden zusammengeschlossenen Baptisten überwiegend weder theologisch noch gesellschaftspolitisch konservativ sind – oft sogar im Gegenteil.

Konservativ sind aber die dem genannten Bund angehörigen Brüdergemeinden. Die Mehrzahl der Brüdergemeinden gehört allerdings nicht zum Bund. Insgesamt gibt es rund 45.000 "Brüder" in Deutschland. Die Zahl umfaßt wie bei allen keine Babys und Kleinkinder taufenden Gemeinden nur diejenigen, die sich bewußt als Mitglieder registrieren lassen. Adressen von 400 Brüdergemeinden nennt die Christliche Verlagsanstalt (Postfach 1251, Dillenburg, Tel. 0 22 71 / 83 02 0, Fax 83 02 10) Brüdergemeinden unterscheiden sich von Baptisten hauptsächlich dadurch, daß sie nur selten bezahlte Pastöre haben, sondern in anderen Berufen arbeitende Brüder predigen und die Gemeinden leiten.

Entschieden konservative Baptisten-Gemeinden außerhalb des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden nennen Pastor Wilhelm Falk, (Bibel Baptistengemeinde Balanstraße 324, 81549 München, Tel./Fax: 089 / 68 27 26) und Pastor Lomax Skinner (Freie Baptisten-Gemeinde, Zwernitzer Straße 26 a, 81243 München, Tel. 089 / 8 34 75 32).

Baptistisch in der Theologie sind praktisch auch die über 120 Gemeinden, deren Adressen im Auftrag der Konferenz für Gemeindegründung Rolf Benz, Neulandenweg 46, 26670 Hollen, Tel. 0 44 89 / 36 30 in einer Liste zusammengestellt hat. Als sogenanntes "Modell 4" aus der EKD ausgeschieden sind meist ebenfalls keine Babys taufenden, konservative Gemeinden: Arbeitsgemeinschaft Modell 4 Gunter Mandler, Nachtigallenweg 17, 35452 Heuchelheim, Tel. 06 41 / 6 15 27.

Freikirchen sind sonntags stets gut gefüllt

Mehrere Gemeinden derselben Orientierung gehören zur Internationalen Arbeitsgemeinschaft Mission (IAM), Pfarrer Günther Schulz, Voerder Straße 31 a, 58315 Hagen, Tel. 0 23 31 / 90 25 81, Fax 90 25 82, die besonders in Thüringen Gemeinden gründet. Die über 30.000 Mitglieder umfassenden rund 400 Freien Evangelischen Gemeinden taufen auch keine kleinen Kinder. Eine Reihe Freier Evangelischen Gemeinden kann man nicht als konservativ bezeichnen. Konservative "Vorzeigegemeinde" ist die große Freie Evangelische Gemeinde Gießen (Talstraße 14, 35390 Gießen, Tel. 06 41/ 7 24 93, Fax 7 88 73). Christliche Gemeinden, Missionsgemeinden, Bibelgemeinden, Evangelische Freikirche, Freikirchliche Gemeinde, Biblische Gemeinde usw. sind weitere Namen – bei gleich konservativer, mehr oder weniger baptistischer Theologie. Einige stehen im Telefonbuch unter "Kirchen", andere sind dort nach dem Alphabet aufgeführt.

Insgesamt wachsen die konservativen der evangelischen Freikirchen in Deutschland deutlich. 90 Prozent der bestbesuchten evangelischen Gottesdienste finden in konservativen Freikirchen statt. Rund ein Prozent der Deutschen sind evangelischen Freikirchen zuzurechnen. An normalen Sonntagen stellen sie aber mindestens ein Drittel aller Besucher evangelischer Gottesdienste, bei Jüngeren weit mehr. Weltweit sind mindestens zwei Drittel aller Protestanten in konservativen Kirchen.

In Deutschland werden gerade viele neue Gemeinden gegründet. Auf dem Land fehlen oft aber noch konservative Freikirchen. Obwohl die Großkirchen und der Staat Freikirchen als Kirchen und gerade nicht als Sekten ansehen, müssen sie insbesondere auf dem Land noch den Sektenvorwurf bekämpfen. Auch gibt es an vielen Orten zwar Freikirchen, auch konservative, nicht aber überall schon die jeder Richtung: Wer konservativ ist, aber an Babytaufe, Konfirmation, Pastor im Talar, eher feierlichen Gottesdiensten und entsprechenden Kirchenräumen hängt, wird sich einer baptistischen Gemeinde oft nicht anschließen. Da die strikt lutherischen Kirchen eher selten Gemeinden gründen, wird es Aufgabe der Bekennenden Evangelischen Gemeinden sein, diese Menschen in möglichst vielen neuen Gemeinden zu sammeln. Dann wird auch die Gleichsetzung von evangelischer Kirche und EKD zu Ende gehen.

Direkt politisch werden sich die Bekennenden Gemeinden wohl nur selten äußern. Wer Abtreibung fast immer als Mord, Homosexualität und außerehelichen Geschlechtsverkehr als Sünde bezeichnet, die Rolle der Frau als Mutter betont, nur Männern das Predigen in Gottesdiensten erlaubt, Sozialismus als antichristlich verurteilt, Fleiß und Anstand betont, maßvolle körperliche Strafen bei Kindern als im Notfall biblisch geboten, schulterlange Haare bei Männern, männliches Outfit bei Frauen ablehnt, meist auch gegenüber internationalistisch-zentralistischen Einheitsstaaten biblische Bedenken hat, den ewigen Frieden zwar will und fördert, ihn aber wie die Bibel als Illusion ansieht, daher meist auch Kriege zur Verteidigung des Vaterlandes billigt, den sündhaften Menschen und weniger Systeme für das Elend der Welt verantwortlich macht, ist wohl auch ohne ständiges direktes politisches Engagement als geistiger Pfeiler einer konservativen freiheitlichen Demokratie geeignet. Ronald Reagans für die Welt so folgenreicher Wahlsieg 1980 wird daher auch als Ergebnis des wachsenden Einflusses konservativer evangelischer Kirchen gesehen, in denen Reagan selbst wie auch Frau Thatcher aufwuchs. Praktisch alle konservativen Evangelischen, auch die in der Landeskirche verbliebenen, sehen keine Chance mehr, die Landeskirchen wieder bibeltreu machen zu können. Viele Menschen in Deutschland wissen aber noch gar nicht von den konservativen Alternativen.

Wichtiger als alles gesellschaftlich Konservative ist aber die Botschaft (nur) konservativer Protestanten, daß (nur) der Glaube an die Vergebung der Schuld (nur) durch Christus Menschen ewiges Leben schenkt.

 

Ulrich Motte ist Vorstandmitglied des Evangelischen Arbeitskreises der Münchner CSU.


 
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