© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
"Wo die Erde zu Ende ist . . ."
Luis de Camoes: Os Lusiadas – Die Lusiaden
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Das jeweils Modernste und Aktuellste ist, wie die Erfahrung lehrt, das, was am schnellsten veraltet. Insbesondere Romane veralten in verhältnismäßig kurzer Zeit. Lyrik oder Geschichtsschreibung scheinen den Moden besser trotzen zu können.Sie bleiben vielfach auch dann noch genießbar, wenn das Weltbild ihrer Schöpfer schon seit langem obsolet geworden ist. Am wertbeständigsten aber sind archetypträchtige Mythen.

Das Hauptwerk des portugiesischen Klassikers Luis de Camões (1524–1580) ist ebenso mythisch wie das gesamte Leben dieses Abenteurers, Rabauken, Seefahrers, Soldaten und humanistisch gebildeten Dichters. Seine "Lusiaden" sind epische Odyssee, historische Chronik, von unzählbaren lyrischen Perlen erstrahlende Welt-Dichtung. Als Schöpfer der zehn Gesänge und mehr als tausend Ottaverime-Strophen umfassenden "Lusiaden" stellte sich Camões ebenbürtig neben Gestalten wie Dante, Cervantes und Wolfram von Eschenbach.

Den Faden der Handlung bildet die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama. Seine Umsegelung Westafrikas und des Kaps der Guten Hoffnung, die Zwischenstation in Malindi (Kenia), die Ankunft in Calicut (Kozhikode) in Vorderindien und schließlich die triumphale Rückkehr nach Lissabon im September 1499 kommen zur Sprache.

Doch das Historische ist verwoben mit antiker Mythologie und ungebrochener Katholizität, die sich ihres Glaubens gewiß ist. Jupiter, Venus und Neptun mischen sich in die Pläne und Taten der Portugiesen ein. Ein neidischer Dionysos trachtet danach, die christlichen Seefahrer scheitern zu lassen. Ozeanische Luft umweht alle Gestalten und Szenen. Mehr und mehr erscheint die portugiesische Nation, das Volk des mythischen Stammvaters Lusus – daher der Originaltitel "Os Lusiadas" – als der eigentliche Heros des Epos. Seine ruhmvolle Berufung sei es, Größeres zu unternehmen als Odysseus, Aeneas und sogar Alexander. Was einst die Römer für die mittelmeerische Welt gewesen seien, dies würden die Portugiesen in globalem Maßstab sein: Weltentdecker und Schöpfer einer vier Kontinente umspannenden lusitanischen Ordnung.

Camões lebte seine Dichtung, ehe er sie schrieb – zum allergrößten Teil in Indien. Noch heute zeigt man in Macao die Garten-Grotte, in der Camoes an den "Lusiaden" arbeitete.

Selbst durch das Medium der Übersetzung vermag ein der portugiesischen Sprache Unkundiger die Musik, das Pathos, den Lyrismus des Originals zu genießen. Hans Joachim Schaeffers Übertragung ist die erste vollständige deutsche "Lusiaden"-Ausgabe seit mehr als hundert Jahren. Die soeben im Heidelberger Elfenbein-Verlag erschienene portugiesisch-deutsche Ausgabe, bibliophil ausgestattet, versehen mit präzisen Erklärungen und Anmerkungen, insgesamt über 650 Seiten umfassend, ist in jeder Hinsicht eine editorische Großtat.

Für so unterschiedliche Männer wie Johann Gottlieb Fichte, Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel, Alexander von Humboldt und Reinhold Schneider war der Rang des Epos eine ausgemachte Sache. August von Platen erlernte seinetwegen das Portugiesische. Camões steht vor uns als eine dem Columbus gleiche Erscheinung. Er ist ein Polyhistor und poeta doctus wie Dante, aber zugleich auch Krieger, Seefahrer und Naturbeobachter von Graden. Alexander von Humboldts hohem Urteil ist auch heute uneingeschränkt zuzustimmen: "Unnachahmlich sind in Camões die Schilderungen des ewigen Verkehrs zwischen Luft und Meer, zwischen der vielfach gestalteten Wolkendecke, ihren meteorologischen Prozessen und den verschiedenen Zuständen der Oberfläche des Ozeans. Camoes ist im eigentlichen Sinne ein großer Seemaler."

Es wird wohl immer rätselhaft bleiben, wie es ihm bei seinem überreich bewegten Leben – einschließlich Schiffbruch, Verbannung, Gefängnis, Armut, Verlust eines Auges – überhaupt möglich war, in der antiken Literatur, in der Historie und in den Wissenschaften seines Zeitalters wie ein professioneller Gelehrter bewandert zu sein. Die "Lusiaden" gehören zu den ganz wenigen Werken, die beanspruchen dürfen, über ihre Sprachgrenzen hinaus ein ganzes Weltalter zu repräsentieren. Sie sind eine Verherrlichung der nicht mehr als Scheibe, sondern als Kugel erscheinenden Erde, die, wie wir inzwischen wissen, aus dem Weltraum betrachtet mehr als jeder andere Planet bläulich erscheint. Drei Viertel des Erdballs sind Wasserflächen, so daß man, genaugenommen, von "Seeball" oder "Meeresglobus" sprechen müßte. Portugal, so Camões, sei das Land, "wo die Erde zu Ende ist und wo das Meer beginnt" (8,78). Ozeanischer Odem durchweht die "Lusiaden" vom Beginn bis zum Finale. Das Nationale, das Abendländische weitet sich zum Atlantik wie zum Pazifik, zum Thalassischen und Kosmischen, schließlich zum Transzendenten. Der Dichter schaut, seinem Schauen entspringt Beschwörung und bündiges Wort. Formel reiht sich edelsteingleich evozierend an Formel. Seine Neigung zum Festlichen wie zum Lehrhaften, zu Prunk, Rühmung und Gepränge erinnert an die größten Maler der Spätrenaissance und des Barock: an Tintoretto, an Correggio, an Rubens.

Das portugiesische Weltreich, ein interkontinental-ozeanisches Großvenedig, ist inzwischen untergegangen. Doch die Portugiesen leben auch heute noch mit Camões auf du und du. Andere Völker identifizieren sich vielfach mit den Figuren ihrer Dichter, etwa mit Faust, Hamlet, Don Quijote oder Simplicius. Der Portugiese, auch der nachimperiale Lusitaner, erkennt sich im Dichter selbst wieder, in Camões. Anders als in Deutschland, wo im jüngstvergangenen Jubel-Jahr kaum einem der öffentlichen Ansager etwas zu Goethe einfiel, hat das portugiesische Parlament vor kurzem über eine Woche lang auf höchstem Niveau über Camões und seine fortzeugende Bedeutung auf verhandelt.

Als Camões starb, war der Zenit Portugals bereits vorüber, eine zeitlang schien sogar die staatliche Unabhängigkeit fraglich zu sein, ein erheblicher Teil seiner überseeischen Kolonien fiel an die Niederlande. So wurde das Leben des Soldaten-Dichters und Abenteurers Camões zu einer tragikumflorten Existenz: ein Dichter, erfüllt von leidenschaftlichem Heimweh, aber ohne Heimat, von seinen Zeitgenossen kaum beachtet, die Untergänge des Zeitlichen allein im Werk überwindend, dessen durchnäßtes Manuskript er bei einem Schiffbruch im Chinesischen Meer mit knapper Not den Wogen entreißen konnte. Ruhm ist, nach einem Wort Wilhelm Raabes, Mit-Gedachtwerden, wenn an ein ganzes Volk gedacht wird. Dies gilt auch für Camões.

 

Luis de Camões: Os Lusiadas. – Die Lusiaden. Aus dem Portugiesischen von Hans Joachim Schaeffer. Mit einem Nachwort von Rafael Arnold. Elfenbein Verlag, Heidelberg 2000, 655 Seiten, 128 Mark.

 

Gerd-Klaus Kaltenbrunner lebt als freier Schriftsteller in Baden.


 
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