© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/00 14. April 2000

 
Vom Reiz des Absurden
Baal Müller

Walter Benjamin hat eine Anekdote des esoterischen Mythenforschers Alfred Schuler überliefert, nach der jede noch so wahre Theorie irgendwo ein Körnchen Unwahrheit enthalte, so wie ein hochwertiger Teppich stets irgendeine Abweichung in seiner Textur aufweise.

Gerade daran erkenne man seine Güte im Gegensatz zur genormten Fabrikware. Wenn wir dies auch für Teppiche gelten lassen, werden wir einer solchen philosophischen Verallgemeinerung nicht unbedingt zustimmen, sondern doch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen wahren und falschen Theorien bestehen lassen wollen. Unter komplexen Weltanschauungen sind solche Reinformen zwar kaum anzutreffen, aber es lassen sich beliebig viele Minitheorien, die zum Beispiel nur noch aus einem Satz bestehen, ausdenken, die entweder ganz wahr oder ganz falsch sind. Zwar hat jede Theorie ihre unbeweisbaren Axiome und unabsehbaren Konsequenzen, aber das tut ihrer Wahrheit keinen Abbruch.

Ein anderes Problem ist freilich, daß die Wahrheit manchmal ziemlich langweilig ist. Das Falsche, Unsinnige und Absurde, das der Phantasie alle nur erdenklichen Möglichkeiten einräumt, hat oft einen viel größeren Reiz als die schnöde Realität, woraus sich das zu allen Zeiten hohe Interesse am Paranormalen und seinen Gurus ergibt. Ufos, grüne Männchen, exakt zutreffende Horoskope, funktionierende Sozialismen, Wunder aller Art sind jedoch nicht einfach nur deshalb so spannend, weil es sie nicht gibt, sondern weil sich nicht ausschließen läßt, daß es sie ja doch einmal irgendwie geben könnte. Etwas könnte ja vielleicht doch "dran" sein.

Das eigentlich Reizvolle sind also gar nicht Schulers und Benjamins fast ganz wahre Theorien, die nur in irgendeiner Kleinigkeit nicht stimmen, sondern umgekehrt die höchstwahrscheinlich fast ganz falschen Lehren, die doch nicht völlig an der Wirklichkeit vorbeigeschrammt sein können. Es kann doch selbst der abseitigsten Irrlehre nicht gelungen sein, nur Irrtümer zu produzieren; irgendwo wird es doch einen "wahren Kern" geben, und vielleicht ist der so beeindruckend und phänomenal neuartig, daß die ganze Hülle aus Schein und Trug von ihm abplatzt wie die schuppige Haut einer sich häutenden Schlange.

In Kunst und Philosophie, ja selbst in den Wissenschaften, kann eine solche Neigung zum Absurden durchaus dazu führen, daß es einem "wie Schuppen von den Augen" fällt. In der Praxis allerdings kann die Schlange, dieser einzige kleine Haken am und im Paradies, ziemlich gefährlich sein. Man beißt an und fliegt hinaus.


 
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