© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Plattformen der Einsamkeit
Theater: Thomas Ostermeier inszeniert "Gier" von Sarah Kane
Claudia Thieme

Wir müssen von vorne anfangen. Wie sollten wir eigentlich leben? Wie wollen wir leben? Essenzielle Fragen an das Bewußtsein des Individuums in einer neufreiheitlichen und diffus-entpolitisierten Gesellschaft, deren Ziel zu ihrem Inhalt geworden ist – effiziente Leistung gemessen an den Gesetzen des Marktes. Ein gänzlich unorganischer Prozeß ist damit in Gang gekommen, ein Paradoxon, denn für den einzelnen resultiert gerade aus einer Kultur des materiellen und ideellen Überangebotes der Zwang zu vollkommener moralischer Anpassung, heimatlosem Unbehagen und auf der Suche nach dem Ich zu Orientierungslosigkeit. Klar definierte praktische wie ethische Werte und Ideologien verschwimmen und verlieren ihren zentralen Platz im Dasein.

Dennoch besteht der Wunsch nach einem anderen wirklich selbstbestimmten Leben. Mehr oder weniger verkümmert.

Eine der größten Bühnen Deutschlands, die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, ist im Januar dieses neuen Jahrtausends mit der bisher radikalsten Erneuerung in Ensemble und Leitung wiedereröffnet worden und hat sich genau diese Auseinandersetzung mit individuellen Sehnsüchten, existenziellen Konflikten und gesellschaftlichen Abhängigkeiten des Menschen zum Auftrag und zum Mittelpunkt ihrer Arbeit gemacht.

Mit einer klaren Entscheidung für das zeitgenössische Theater wird sich die erste Spielzeit gestalten. Grundlage bildet das Material internationaler Gegenwartsautoren, und am Ende steht das Experiment, einen Dialog von unterschiedlichen Weltsichten und Gesellschaftsentwürfen zu beginnen. Die schwierigste Aufgabe.

Die vier künstlerischen Leiter des neuformatierten Schaubühnenensembles, der Regisseur Thomas Ostermeier, die Choreographin Sasha Waltz und die beiden Dramaturgen Jens Hillje und Jochen Sandig knüpfen gemeinsam mit ihrem 40köpfigen Team von Schauspielern und Tänzern an das ursprüngliche Arbeitsmodell der Schaubühne in ihren Anfangsjahren unter Peter Stein und Claus Peymann an. Das Schaubühnenmodell bedeutet Ensemlearbeit, Mitsprache und Mitbestimmung aller Ensemblemitglieder bei mindestens zweijähriger Verpflichtung für das Projekt, keine Vertragsklauseln bei einheitlichen, offengelegten Gagen. Die Verbindung von Sprech- und modernem Tanztheater ist in Deutschland noch wenig etabliert. Angestrebt wird hier die Entwicklung neuer Spiel- und Darstellungsweisen zum Beispiel auf der Grundlage alternativer Schauspielmethoden.

Eine der ersten Arbeiten von Thomas Ostermeier an der Schaubühne ist nach "Personenkreis 3.1" die deutschsprachige Erstaufführung des Dialogstückes "Gier " der amerikanischen Dramatikerin Sarah Kane. In der vergangenen Woche war diese Arbeit für das Publikum zu sehen.

Der englische Originaltitel des Sückes lautet "Crave". Ein Wort, das in mehrere Bedeutungen übersetzbar ist. "Crave" kann heißen Gier, Verlangen, Begehren – Sehnsüchte also, die ganz unterschiedliche Färbung annehmen können.

Die Figuren des Stücks A, B, C und M, zwei Männer und zwei Frauen erzählen von dieser Empfindung. Klassische Dialoge gibt es nicht. A, B, C und M erzählen eine Geschichte. Vielleicht erzählen sie eine identische Geschichte, sie tun es jedoch nicht in der gewohnten Form. Es scheint, als beginnen sie in der Mitte, springen zum Anfang, zurück ganz ans Ende und wieder über die Mitte. Wahrscheinlich sprechen sie aus der Perspektive der Erinnerung. Sie stellen Fragen, die nicht beantwortet werden. Sie geben Antworten auf Fragen, die nicht hörbar sind. Sie kommunizieren auch nicht miteinander. Sie sprechen zum Publikum, zu jemandem von draußen. Ein gigantischer Monolog der Einsamkeit. Ganz selten nur fließen Antworten und Fragen ineinander: blasse Lichtspuren der Aufmerksamkeit.

Mit der Zeit gestalten sich die Satzfragmente zu Kieseln, die ein Sandbild ergeben. Ein Mosaik aus dem Zeitsand der Erinnerung. Eine Collage aus Bewußtseinsebenen, Bildern und Textfragmenten, die sich zu einer Biographie verdichten könnten.

Gier und Verlangen gelten als sinngleiche Vokabeln. In den Texten von A, B, C und M stehen sie für Aktivität und Passivität. Täter und Opfer. Gewalt erzeugen und Gewalt erfahren. Keiner dieser Vorgänge wird jedoch sichtbar. Alles läuft über die Vorstellung und über die Sprache.

Die vier hervorragend besetzten Protagonisten Falk Rockstroh als A, Michaela Steiger als M, Thomas Dannemann als B und Christin König als C bewegen sich auf jeweils vier übermannsgroßen Quadern, jeder für sich, kleine Plattformen menschlicher Einsamkeit, winzige Bühnen traumatischer Ereignisse und Tragödien. Zwischen ihnen ist der Abgrund.

Die Rolle des C kristallisiert sich als passivste der Figuren heraus. Während A, B und M in Bewegung bleiben, verharrt sie verkrampft auf einem Stuhl sitzend. Sie erzeugt am meisten von allen Figuren die Reaktion des Mitleids. Sie spricht auch am unbarmherzigsten über das Sterben. Leider ist "Crave" eine der letzten Arbeiten Sarah Kanes. Im Februar 1999 wählte sie in London den Freitod.

 

Die nächsten Aufführungen von "Gier" an der Schaubühne (Lehniner Platz, 10709 Berlin) finden am 18., 19., 20. und 21. April statt


 
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