© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Die Insel ist kein Vorbild für Europa
Automobilindustrie: Großbritannien wird nicht erst seit der Rover-Pleite zunehmend gemieden
Jörg Fischer / Péter Herter

Das hat es seit den Bergarbeiterstreiks der 80er Jahre nicht mehr gegeben: Fast 100.000 Menschen demonstrierten am 1. April im englischen Birmingham gegen die Pläne von BMW, die britische Tochtergesellschaft Rover zu verkaufen. Das Vorgehen werde "vom britischen Volk nicht toleriert", drohte Gewerkschaftsfunktionär Duncan Simpson. Auf Transparenten wurde BMW "Verrat" und "industrielle Sabotage" vorgeworfen, manche flehten: "Laßt Rover leben". Auch Lokalpolitiker und Kirchenführer zogen mit durch die Stadt, vor deren Toren die größte Rover-Fabrik Longbridge steht. Etwa 50.000 Stellen sind insgesamt gefährdet. Auch antideutsche Töne gegen die "Krauts" und Boykottaufrufe gegen BMW werden laut. Prinz Michael von Kent, Cousin der britischen Königin, muß sich nach dem Kauf eines neuen BMW "mangelnde Vaterlandsliebe" vorwerfen lassen. Vergessen ist, daß auch die Briten immer weniger Rover-Autos kauften.

Das Unheil für BMW begann 1993, als Bernd Pischetsrieder Vorstandsvorsitzender wird. Er löste Eberhard von Kuenheim ab, in dessen 23jähriger Amtszeit sich der Umsatz um das 18fache, die Produktion von Autos um das Vierfache und von Motorrädern um das Dreifache erhöht hatte. Kuenheim machte aus dem 1959 fast bankrotten Unternehmen eine Premiummarke. Doch 1994 wird die marode britische Rover Group Teil vonBMW. Pischetsrieder glaubte, mit Masse statt Klasse zum global player aufzusteigen: Am Ende kosteten die sechs Rover-Jahre 9 Milliarden Mark, so BMW-Finanzvorstand Helmut Panke.

Etwas hatte Pischetsrieder aber richtig vorausgesehen: In der weltweiten Autoindustrie herrscht Aufregung. Fusionen, Übernahmen, Beteiligungen, Verkäufe – in Jahrzehnten gewachsene Marken werden wie Schachfiguren hin- und hergeschoben. "Immer größer" heißt die Parole. In wenigen Jahren könnte es weltweit nur noch zehn eigenständige Autohersteller geben: VW übernahm Seat und Skoda sowie kürzlich den erfolgreichen schwedischen Bus- und Nutzfahrzeug-Hersteller Scania. General Motors (GM), der Mutterkonzern von Opel, übernahm Saabund beteiligte sich an Fiat; Ford kaufte Jaguar, Volvo und jetzt Land Rover, Daimler fusionierte mit Chrysler und übernahm kürzlich 34 Prozent des verschuldeten japanischen Herstellers Mitsubishi. Renault hat eine Beteiligung am ebenfalls verschuldeten Hersteller Nissan erworben. Einen Alleingang wagt bisher der französische PSA-Konzern (Peugeot und Citroen). Der finanzstarke Branchenführer in Japan, Toyota, expandiert bislang aus eigener Kraft. Die starke Honda-Gruppe will ebenfalls unabhängig bleiben.

Hauptgrund für die Autobauer-Fusionitis sind economies of scale. Das heißt, es soll Mengenrabatt beim Einkauf erzielt werden. Je größer die Firma ist, um so mehr Teile kauft sie bei den Lieferanten, desto stärker können die Preise gedrückt werden. Auch in der Konstruktion, bei der Herstellung und im Vertrieb entstehen Einsparpotentiale, wenn die Menge der hergestellten Autos wächst: Eine Zündanlage oder eine Lenkung müssen nur einmal konstruiert werden, können dann aber in verschiedene Modelle eingebaut werden, ganze Plattformen entstehen. Das ist für Hersteller verlockend, die meinen, statt mit Technik nur auf der Kostenseite noch Gewinn erzielen zu können: Durch den enormen Wettbewerb herrscht Preisdruck. Ist die Markenbindung der Käufer gering, sind Preiserhöhungen nicht durchzusetzen. Also müssen die Kosten bei den Herstellern runter. Wegen der knappen Margen bringen außerdem nur hohe Absatzzahlen ordentliche Gewinne.

Als zweiter Grund für die Übernahmen wird die Abrundung der Angebotspalette genannt: Daimler als Nobel-Hersteller hatte keine Massenprodukte. Ob ein europäischer Käufer deshalb von VW oder Renault zum Chrysler Neon greift, darf bezweifelt werden. Der dritte Grund für die Fusionswelle ist der Aktienkurs, den Fusionen – oder Gerüchte darüber – explodieren lassen.

Ähnliche Ideen hatte auch BMW bei der Übernahme von Rover. Doch statt auf eigene Stärke und Image zu setzen, machte BMW zwei Fehler auf einmal: Die Münchner Edelmarke kaufte eine marode Firma im falschen Land. VW war bei der Expansion erfolgreich, denn der Konzern mied das Wirtschaftswunderland von Thatcher und Blair: "Wir haben europaweit 180 mögliche Standorte verglichen und uns im September 1992 für Györ entschieden. Dieser Standort hat eine optimale logistische Anbindung an Straße und Schiene und bietet eine besonders hohe Flexibilität", begründet Audi-Produktionsvorstand Jürgen Gebhardt seine Wahl: "In Ungarn gibt es sehr viele exzellent ausgebildete Techniker, wir rekrutieren auch Hochschulabgänger der TU Györ." VW montiert erfolgreich in Preßburg, Opel in Gleiwitz und in Szentgotthard/Ungarn, nahe der Grenze zu Österreich.

Der momentan hohe Pfundkurs ist nicht die alleinige Ursache der britischen Misere. Großbritannien ist trotz "freierer" Marktwirtschaft kein Vorbild. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt in Deutschland 23 Prozent über dem EU-Durchschnitt, in Frankreich 12 Prozent darüber. Selbst Italien erreicht 92 Prozent des EU-Niveaus: Die Briten erzielen nur 87 Prozent. Die Lohnstückkosten sind jedoch, trotz niedriger Löhne, höher. Grund: Die Arbeitsproduktivität ist geringer. Die sprudelnden Erdölquellen in der Nordsee lassen den britischen Patienten gesünder aussehen als er ist. Zukunftstechnologien kommen seit Jahren nicht mehr von der Insel, die mit EU-Mitteln nach Schottland gelockte deutsche Chip-Fabrik ist wieder dicht. 1998 brachen erstmals seit 1991 die Exporte der britischen Industrie ein; Die meisten der neugeschaffenen Stellen sind "Billigjobs" im Dienstleistungsbereich.

Schon droht ein neuer Rückschlag: Honda kündigte an, seine Produktion in England zu halbieren. Die Montage des Ford Fiesta soll von Dagenham nach Köln verlegt werden. Als Folge würden im Osten Londons 4.000 Stellen wegfallen. Inzwischen sucht BMW weltweit nach einem neuen Standort: Dabei ist Ungarn im Gespräch, denn es gab auch für Rover bereits sehr konkrete Planungen für ein Werk in Tatabánya unweit von Raab (Györ), das wegen Drucks aus London nicht gebaut wurde. Als mögliche Standorte werden auch Schweinfurt oder Fürth gehandelt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen