© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Carl Gustaf Ströhm

Die drei baltischen Staaten verspüren Unbehagen angesichts Wladimir Putins. Die Ankündigung des neuen Kreml-Chefs, Moskau werde sich aktiver als bisher um die Russen außerhalb der russischen Grenzen kümmern, ist nur die Spitze eines Eisbergs, der sich demnächst aus östlicher Richtung auf Estland, Lettland und Litauen hinbewegen könnte.

Die Beziehungen zwischen Moskau und den Balten, die erst vor neun Jahren – im Zusammenhang mit dem Putsch gegen Gorbatschow – ihre Souveränität wiederherstellen konnten, sind seltsam doppelbödig. Einesteils gibt es formal korrekte diplomatische Kanäle und wirtschaftliche Verbindungen, andererseits benimmt sich die Moskauer Politik – auch schon vor Putin – gegenüber dem Baltikum so, als wolle sie sich eine Hintertür für eine neuerliche Inbesitznahme offenlassen.

Das russische Außenministerium läßt kaum eine Gelegenheit verstreichen, an einzelnen Maßnahmen und Verhaltensweisen der Balten Kritik zu üben, und zwar in einer Form, wie sie zwischen "befreundeten Staaten" gewiß nicht üblich ist. Als neulich Estlands Präsident Lennart Meri einem betagten Widerstandskämpfer gegen die Sowjetokkupation einen Orden verlieh, protestierte Moskau gegen die Auszeichnung eines "Verbrechers", obwohl dessen Verbrechen lediglich in dem Wunsch nach nationaler und persönlicher Freiheit bestand.

Als vor einigen Wochen überlebende Veteranen der "Lettischen Legion" einen Kranz zu Ehren ihrer Gefallenen am Rigaer Freiheitsdenkmal niederlegten, bezeichnete man Lettland in Moskau als "faschistisch". Der Botschafter Rußlands in Riga erklärte, die bilateralen Beziehungen seien auf einem Tiefpunkt angelangt. In den westlichen Medien zog man die Augenbrauen hoch angesichts solch lettischer politischer Unkorrektheit. Immer wieder versuchen Politiker der baltischen Staaten, dem Westen zu erklären, daß es im Zweiten Weltkrieg für ihre Nationen nur die Wahl zwischen den (damaligen) Deutschen und den Sowjets gab – und daß die lettischen und estnischen Einheiten, auch wenn sie deutsche Uniformen tragen mußten, nicht für Deutschland oder Hitler, sondern für ihr Volk und gegen die tödliche Bedrohung durch sowjetische Massendeportationen kämpften. Insofern war die Lage der Balten damals ähnlich wie jene Finnlands, das ja auch gegen die Sowjets kämpfte, ohne sich mit Hitlers Kriegszielen zu identifizieren.

Aber nun hören die Balten neuerdings von europäischen Institutionen, man solle die Vergangenheit ruhen lassen und die jüngste Geschichte im positiven Sinne umschreiben: nicht immer nur über Massendeportationen nach Sibirien und Greueltaten des KGB, sondern mehr über die heiteren Dinge der Nachbarschaft und des Zusammenlebens von Esten und Russen, Letten und Russen.

Kurz danach meldete sich der russische Botschafter in Reval (Tallinn) zu Wort: Die Esten sollten aufhören, jährlich den Friedensvertrag von Dorpat (Tartu) zu feiern. Dieser Vertrag wurde 1920 zwischen Estland und Sowjetrußland geschlossen und verbriefte die staatliche Unabhängigkeit der Esten. Der Vertrag sei "obsolet", erklärte der russische Diplomat – und Moskau legte noch nach, indem es behauptete, Estland habe 1940 "freiwillig" die "Aufnahme in die Sowjetunion" beantragt. Daß dieser "Freiwilligkeit" eine brutale militärische Okkupation und die Verschleppung des Staatspräsidenten Päts und der Regierung vorausgingen, wird bewußt oder unbewußt verschwiegen.


 
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