© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/00 07. April 2000

 
Der Fluch der Akten
Warum die deutsche Regierung 1990 belastende Stasi-Akten vernichten ließ
Hans Peter Rissmann

Die EU-Kommission scheint wieder einmal vor einem kollektiven Rücktritt zu stehen. Um sein schönes Amt besorgt, glaubt Günter Verheugen, der für die EU-Osterweiterung zuständige Brüsseler Kommissar der Schröder-Regierung, sich mit dem Kotau empfehlen zu können, daß er sich bei seiner weiteren Arbeit keinesfalls von "deutschen Erwägungen" leiten lassen werde. Das sind vertraute Töne. Auch in den sechzehn Jahren der Kohl-Ära wäre niemand, der politisch urteilsfähig geblieben war, auf den Gedanken verfallen, in Brüssel würden deutsche Interessen vertreten. Man erinnert sich daran, wie Helmut Kohl ausgerechnet im Dom zu Speyer der Margaret Thatcher anbiedernd zuraunte, er sei eigentlich kein Deutscher. Es ist diese Bereitschaft zur Selbstverleugnung, die Ausländern mit einer Mischung aus Verachtung und Irritation regelmäßig einfällt, wenn man sie um eine spontane, durch keine diplomatische Höflichkeit gemilderte Einschätzung der politischen Klasse der Bundesrepublik bittet. Und darum gieren die Vertreter dieser mit Minderwertigkeitskomplexen geschlagenen Klasse unentwegt nach fremdem Zuspruch. Nicht oft genug können sie hören, daß sie das Erwartungssoll der "Weltöffentlichkeit" wieder einmal übererfüllen. Daß nämlich das "neue Deutschland" eine "europäische Nation" sei, eine Demokratie und ein Rechtsstaat, der die Freiheit des Individuums und die Menschenwürde achte.

Die Kehrseite solch "außengeleiteter Existenz" (David Riesman) zeigt sich freilich stets, wenn Skandale ins Haus stehen. Dann fallen Schein und Wirklichkeit auseinander. Anders als in den bewunderten westlichen Demokratien stellt sich aber bei jedem bundesdeutschen Skandal offenbar sogleich die Systemfrage. Die "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" (Jürgen Habermas) werden eben in diesem unserem Lande am peinlichsten empfunden. Zumal die politische Klasse dem deutschen "Volk", das sie lieber heute als morgen in die multiethnische "Bevölkerung" verwandeln möchte, ohnehin nicht traut. Zu Recht, da Helmut Kohls europäische Visionen in einer Volksbefragung auf ebensowenig Akzeptanz gestoßen wären wie die Erfolge auf jenem von der rot-grünen Koalition nun in schöner Kontinuität beackerten Felde, wo der Ehrenmann sich seinen eigentlich historischen Ehrentitel verdiente – als Kanzler der Einwanderung. Den ehrgeizigsten politischen Zielen dieser Klasse fehlt also von jeher die demokratische Legitimation. Deshalb muß sie darauf bedacht sein, daß diese Zieldifferenz dem Volk verborgen bleibt. Insoweit befindet sie sich in ähnlicher Lage wie das verflossene SED-Regime. Und wie die Kommunisten Ost-Berlins, die auf nichts allergischer reagierten als auf den Vorwurf, Moskaus Marionetten zu sein, so müssen deren Nachmieter im Staatsratsgebäude es für gefährlich halten, wenn ihre "Politik der Hauptaufgabe" als fremdgesteuert oder wenigstens mehr fremden als eigenen Interessen dienend erscheint.

Darum kündigte sich ein kleines Beben an, als im Januar ruchbar wurde, daß es zwischen dem Verkauf der mitteldeutschen Leuna-Werke an den französischenKonzern Elf Aquitaine und Mitterands Bestreben, den Paris gegenüber willfährigen "Europäer" Kohl im Amt zu halten, einen Zusammenhang gegeben haben könnte. Kohl reagierte wutschnaubend: Unter seiner Ägide sei deutsche Politik nicht käuflich gewesen. Was sich jetzt schwerlich widerlegen läßt, da der damalige Kanzleramtsminister Friedrich Bohl etwa belastendes Material wohl dem Reißwolf zuführte. Überhaupt scheint dieser effiziente kleine Bürohelfer im Geltungsbereich des Grundgesetzes immer mehr die Position einzunehmen, die einst der Reichspräsidentensohn Oskar von Hindenburg inne hatte: auch der war in der Verfassung nicht vorgesehen.

Der Reißwolf hat seine systemstabilisierende Nützlichkeit soeben aufs neue unter Beweis gestellt. 1990 ließ der bayerische Verfassungsschutz nach Absprache mit der Bundesregierung aus Stasi-Beständen erbeutete Abhörprotokolle schreddern, die abgrundtiefe Einblicke ins westdeutsche policy making boten. Sie hätten dokumentiert, was jetzt auf anderen Wegen ans Licht kam und als "CDU-Finanzskandal" Furore macht. Oder sie hätten laut Spiegel "auf das Drastischste die Legende von der politischen Unabhängigkeit des Rundfunks in der BRD" widerlegt. Gar nicht auszudenken, wenn Tonbänder und Protokolle der bienenfleißigen Stasi-Hauptabteilung III, die gut dreißig Jahre lang mit dem Abhören von Telefonaten des rheinbündischen Klassenfeindes beschäftigt war, heute vollständig vorlägen. Welch ein Stoff für die chronique scandaleuse einer Führungselite, die sich auf dem moralischen Hochsitz so wohnlich einrichtete.

Immerhin, obwohl die Stasi das Gros dieser Quellen im Wendechaos eilig vernichtete, und westdeutsche Verfassungsschützer ihren Teil zur Entsorgung beitrugen: In der Gauck-Behörde lagern noch 50.000 Abhörprotokolle und Tausende brisanter Tonbänder, und vielleicht findet sich sogar ein furchteinflößend kompletter Satz duplizierter Protokolle, die den sozialistischen Brüdern in Moskau zugegangen sind. Ganz zu schweigen von jenen Dateien, die sich der CIA 1990 in Markus Wolfs Hauptabteilung XX sicherte, und die angeblich soviel Erpressungspotential gegen die Bonner Politprominenz enthalten, daß Kohl bei seinen "Freunden" Bush und Clinton nie auf Rückgabe drängte, weil er US-Daumenschrauben allemal lieber ertrug als die Offenlegung von Washingtons Macht am Rhein, die er fürchten mußte, wenn er die Akten zurückerhalten hätte.

Aktuell wird nun darum gestritten, ob das Abgehörte Verwendung finden soll im Untersuchungsausschuß des Bundestages, der sich um die Aufklärung der Spendenaffaire bemüht. Kohl möchte dies juristisch verhindern. Er besinnt sich plötzlich wieder auf die Spielregeln des Rechtsstaats, zu denen ein strafprozessuales Verwertungsverbot für Beweise zählt, die mit ungesetzlichen Methoden gewonnen wurden. Um solche Bedenken haben sich die westdeutsche Justiz und Verwaltung jedoch in den letzten zehn Jahren nie geschert, als es darum ging, mitteldeutsche Biographien strafrechtlich oder administrativ abzuwickeln. Gleichwohl erwacht auch bei Sozialdemokraten das rechtsstaatliche Gewissen. Weil auch sie fürchten, daß Einflüsse auf politische Entscheidungsfindung publik werden, die nicht im Lehrbuch für Staatsbürgerkunde vermittelt werden.

Nur PDS-Abgeordnete und Grünen- Fraktionschef Rezzo Schlauch verlangen, daß alle Akten auf den Tisch müssen. Man kann ihnen nur zustimmen. Eine "brutale Aufklärung" eröffnet die Chance, daß "deutsche Erwägungen" bei deutschen Politikern zukünftig wieder eine Rolle spielen müssen. Das ist zwar nicht im Sinn der PDS. Aber wenn sie Erfolg hätte, wüßte sie, was "Dialektik der Aufklärung" heißt.


 
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