© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
CDU: Helmut Kohl feiert seinen 70. Geburtstag anders als geplant
Vom Sinn des Scheiterns
Gerhard Eiselt

Als Helmut Kohl mit aller Kraft auf die Ablösung der sozialliberalen Koalition hinarbeitete, proklamierte er die Notwendigkeit einer geistig-moralischen Wende oder einer politisch-moralischen Wende. Damit weckte er die Erwartung, die Politik werde ehrlicher werden, es würden nicht mehr Tabu-Themen und Denkverbote die geistige Freiheit einschränken, es werde endlich über das Rentensystem gesprochen werden, dessen Voraussetzungen durch Arbeitslosigkeit, höhere Lebenserwartung und extreme Geburtenarmut weggefallen waren. Nichts geschah, die geistig-moralische Wende blieb aus.

Als die DDR 1989 in eine kritische Lage kam, traf dies auf einen Helmut Kohl, der sich zwar intensiv um die Einigung Europas kümmerte, der aber gleichzeitig wiederholt erklärt hatte, die deutsche Frage stehe nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik, so auch noch 1988 und bis in das Jahr 1989 hinein. Dabei waren die wachsenden Schwierigkeiten der Sowjetunion und deren Rückwirkungen auf die DDR für aufmerksame Beobachter erkennbar. Die Probleme wurden von Gorbatschow in seinem Buch "Perestroika" dargestellt, das 1987 auf deutsch erschien. Es wurde deutlich: Die Sowjetunion brauchte für ihre Reform Frieden und möglichst auch Hilfe aus dem Westen, gerade auch von Deutschland. Kohl blieb aber weiterhin auf die europäische Einigung fixiert.

Erst mit Beginn der Massenflucht aus der DDR in westdeutsche Botschaften erfolgte eine erste und wichtige Reaktion Kohls: auf Fühlungnahmen aus Ungarn ermutigte Kohl vertraulich die ungarische Regierung zu ihrer in Erwägung gezogenen Politik der Grenzöffnung, die eine Massenflucht aus der DDR über Ungarn und gleichzeitig den Zusammenbruch des politischen Systems der DDR zur Folge hatte. So hat Kohl im Spätsommer 1989 eine wichtige politische Entscheidung für eine zielgerichtete Politik der Wiedervereinigung getroffen.

Während Kohl zwar spät, aber dann zielsicher diese Politik einleitete, versagte die SPD restlos. Sie hatte sich darauf festgelegt, daß die Forderung nach Herstellung der deutschen Einheit im Wege des Selbstbestimmungsrechts überholt und friedensgefährdend sei. Als die Ungarn am 11. September 1989 ihre Westgrenze für ein Abströmen der DDR-Flüchtlinge öffneten, schickte kurz darauf der SPD-Vorstand ein Blitztelegramm an die SED-Führung: Die SPD halte an der Aufrechterhaltung der Beziehungen zur SED fest und gedenke, die SED gegen Angriffe und Diffamierungen der CDU zu verteidigen. Die SPD werde weiter gegen die Destabilisierung der DDR eintreten und in Abgrenzung vom "nationalistischen Wiedervereinigungspathos" der CDU an der Existenz zweier deutscher Staaten festhalten. Diese Zweistaatlichkeit sei eingebunden in die von den Völkern gewünschte Nachkriegsordnung. (Bericht der FAZ vom 23.9.1994 über neue Aktenfunde im zentralen Parteiarchiv der SED.). Vorsitzender der SPD war damals Hans Jochen Vogel.

So hat die SPD-Führung vor der Geschichte ihr Versagen dokumentiert, als es um Deutschlands Einheit ging. Die SPD verlor die erste freie Wahl zur Volkskammer der DDR und die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl.

Die Regierungen Adenauer und Ehrhardt hatten sich auf eine überraschende Wiedervereinigung vorbereitet. Im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen bestand eine Abteilung, die in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern die Entwicklung in der DDR beobachtete und die Regelungen für eine Wiedervereinigung vorbereitete. Die Regierung Brandt/Scheel ließ Minister Herbert Wehner diese Abteilung auflösen. Als Kohl Bundeskanzler wurde, führte er diese Abteilung nicht wieder ein. Die Regierung Kohl hatte keine exakte Kenntnis von der realen Lage in der DDR und daher keine konkrete Vorstellung von den sofort einzuleitenden Maßnahmen. Als sich die Wiedervereinigung abzeichnete und Lafontaine sie als zu teuer ablehnte, kam Kohl mit Innenminister Schäuble und Finanzminister Waigel auf den Einfall, die Kosten der Einheit durch Verkauf des "volkseigenen" Vermögens zu verringern. Kohl schlug den Weg aus, wegen der Kosten der Einheit an das Nationalgefühl zu appellieren, hätte das doch den Weg nach Europa erschweren können. So lehnte Kohl den Vorschlag von Außenminister Genscher ab, den in der SBZ Enteigneten ihr Eigentum zurückzugeben, sofern es noch im volkseigenen Vermögen verfügbar war. Genscher gab nach. Nunmehr behauptete Kohl, die Sowjetunion habe die Rückgabe untersagt und hiervon ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung abhängig gemacht. Schon vor Jahren haben Genscher, Staatssekretär Krause als Verhandlungsführer der DDR, Gorbatschow und Bush dieser Darstellung widersprochen. Die Sowjetunion hatte lediglich verlangt, es dürfe keine ihrer Maßnahmen als Besatzungsmacht als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Zwar waren zeitweise auf unterer Ebene Forderungen auf Unantastbarkeit der Enteignungen erhoben worden, darüber erfolgte aber keine Beschlußfassung.

Kohl hat demnach durch unzutreffende Behauptungen das Rechtsstaatsgebot und die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes mißachtet, denn nach ihnen war der gesamtdeutsche Staat verpflichtet, noch vorhandenes Eigentum den Enteigneten zurückzugeben, sofern nicht im Einzelfall ein realer Enteignungsgrund vorlag. Kohl hat vor dem Bundesverfassungsgericht einen Sachverhalt vortragen lassen, dem maßgebliche Zeitzeugen widersprechen. Dies ist ein schwerwiegender Tatbestand, dessen parlamentarische Erörterung trotz längerer Anzeigenkampagnen unterblieben ist. Spielt eine Rolle, daß die SPD und rheinische CDU-Leute die ostdeutschen Grundbesitzer und Geschäftsleute gern als schädliche soziale Schicht ansehen? Ob dieses parlamentarische Schweigen nach den seit Dezember 1999 bekanntgewordenen weiteren Rechtsverletzungen Kohls fortgesetzt wird, ist eine offene Frage. Die Wiedervereinigung war gleichzeitig ein Test auf die Interessenvergemeinschaftung in der Europäischen Union und in der Nato. Der Test zeigte erschreckende Defizite. Mitterand und Frau Thatcher erklärten im Herbst 1989 ihr "Nein" zur Einheit Deutschlands, Mitterand bemühte sich, die DDR-Führung zu stärken, und versuchte in Kiew, Gorbatschow für ein klares "Nein" zu gewinnen, wie Gorbatschow auf Malta Bush andeutete. Nun ist vom rein nationalen Standpunkt her die Haltung Frankreichs und Englands legitim. Aber die beiden Bündnissysteme dienten vor allem der Abwehr der sowjetischen Bedrohung und der Wiederherstellung freiheitlicher Verhältnisse in den Ostblockstaaten. Deutschland hatte mit der Aufstellung der Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Territorium die Existenz des deutschen Volkes in die Waagschale gelegt, denn ein Atomkrieg hätte beide deutsche Staaten vernichtet. Diese Bündnistreue von Helmut Schmidt und Helmut Kohl, die 1989 zum Verzicht der Sowjetunion auf Gewaltanwendung beitrug, hätten Frankreich und England nicht mit nationalem Egoismus beantworten dürfen. Ihr Verhalten war ein Vertrauensbruch, der sich nur deshalb nicht auswirkte, weil die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion mit Deutschland eine neue Friedensordnung in Europa schaffen wollten. So mußten England und Frankreich beidrehen.

Kohl hatte die europäische Währungsunion stets als Schlußstein der europäischen Integration bezeichnet. Hiervon abweichend ließ er sich 1990/91 von Mitterand erpressen, gegen den Willen von etwa 70 Prozent der Deutschen, die Deutsche Mark in einer europäischen Währung aufgehen zu lassen. Kohl führte mehrfach aus, bei der Einführung der europäischen Währung gehe es um Krieg oder Frieden. Er hat diese Aussage nie näher begründet. Hat Mitterand mit Feindschaft bis zum Krieg gedroht? Stimmt es, daß Mitterand ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis zwischen Paris, London und Moskau androhte? Darf man eine Währungsunion mit Partnern eingehen, die mit Krieg drohen?

Kohl hätte seine Zustimmung von einer Volksabstimmung abhängig machen können, für die man das Grundgesetz geändert hätte. Aber solch demokratisches Votum der Wähler entsprach nicht seiner Vorstellung, nach der er der Baumeister Europas werden wollte.

Als er vorsätzlich gegen das Parteiengesetz verstieß und seinen Amtseid verletzte, wurde die andere Seite Kohls sichtbar, die auch früher schon erkennbar war: Sein Defizit gegenüber dem Recht und dem Rechtsstaat, seine Überzeugung, daß die Politik alles bestimmen müsse, nicht das Volk, Juristen oder andere Fachleute. Und in der Politik bestimmt der Träger der Macht, er selbst, alles. Denn das Erringen der Macht und ihre Behauptung sei der Kern der Politik. Vor 2.000 Jahren dichtete Horaz: "Macht ohne klugen Rat stürzt durch ihr eigenes Gewicht, gemäßigte Macht wird auch von den Göttern gefördert." So liegt im Scheitern Kohls, der am 3. April seinen 70. Geburtstag feiert, viel Sinn und eine wichtige Warnung.

 

Prof. Dr. Gerhard Eiselt war Staatssekretär beim Senator für Schulwesen in Berlin.


 
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