© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/00 31. März 2000

 
Rußland nach der Wahl: Gegenüber dem Wahlsieger Putin ist Skepsis geboten
In geheimer Mission
Carl Gustaf Ströhm

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß das öffentliche Gerede um Menschenrechte, Selbstbestimmung und Demokratie nichts als ein hohles Wortgeklingel ist – die Reaktion der westlichen Spitzenpolitiker, von Madeleine Albright bis Gerhard Schröder und von Tony Blair bis Jacques Chirac, auf die Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation hat es bewiesen.

Dem neuen Kreml-Herren, der eine immerhin zumindest geographisch in Europa liegende Großstadt – Grosny – dem Erdboden gleichmachen und Tausende von Zivilisten mittels Flammenwerfern verglühen ließ, wird – etwa von der US-Außenministerin – Anerkennung für seine "hohe Intelligenz" gezollt. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer, der über Albaner, Kroaten und andere politische Kleinlebewesen mitleidslos die Peitsche der Menschenrechte schwingt, verhielt sich butterweich, als er dem designierten Kreml-Herren seine Aufwartung machte.

Aber abgesehen von vielleicht unzeitgemäßen Argumenten der Moral – der Ansatzpunkt, von dem aus Putin sein Werk der "Erneuerung" Rußlands startet, ist problematisch. Mit alten KGB-Kadern (und Geheimpolizeimethoden) die Korruption in Rußland bekämpfen zu wollen, ist utopisch. Das hat nicht einmal Stalin zustande gebracht. Bei Putin, der sein ganzes Leben als Spion und KGB-Mann im sowjetischen Apparat zugebracht und nur dort politische Erfahrungen gesammelt hat, steht zu befürchten, daß er sein Land und die Welt durch die Brille des Geheimpolizisten betrachtet. Das aber kann leicht zu falschen Schlußfolgerungen führen.

Gewiß ist nicht anzunehmen, daß Putin zu einer unmittelbaren Gefahr für den Westen wird. Aber wenn er anfangen sollte, den Moskauer Druck auf die Nachbarstaaten zu verstärken – nach Tschetschenien käme Georgien an die Reihe, ferner die Ukraine oder die baltischen Staaten – wäre eine spürbare Verschärfung der Situation unausweichlich.

Die Geschichte Rußlands war stets geprägt von der Auseinandersetzung zwischen "Slawophilen" und "Russophilen" auf der einen und "Westlern" auf der anderen Seite. Letztere sahen das Heil des Landes in der Übernahme westlicher Vorbilder und Verhaltensweisen, erstere beharrten auf dem "eigenen" Weg und der "besonderen Mission", die Rußland angeblich in der Weltgeschichte zu erfüllen habe. Das konnte einmal die absolute Monarchie und der Triumph des orthodoxen Christentums sein, ein andermal die Weltrevolution und der proletarische Internationalismus.

Die Wahl Putins deutet darauf hin, daß die Zeit der "Westler" – verkörpert im glücklosen liberalen Präsidentenschaftskandidaten Jawlinskij mit seinen 5,85 Prozent – zunächst einmal vorüber ist. Selbst wenn Putin noch so sehr vom Westen gelernt hat und noch lernen will, er bleibt ein Produkt des sowjetischen und postsojwetischen Machtdenkens.

Trotz mancher westlicher Bankiers und Politiker, die in Putin geradezu den Heilsbringer sehen, der Ordnung macht – und so gute Geschäfte ermöglicht –, sind in dieser Situation Skepsis und Vorsicht geboten. Der Tschetschenien-Krieg kündigt an, daß das Rußland Putins drauf und dran ist, sich mit der islamischen Welt anzulegen. Europa muß darauf achten, daß es nicht in eine solche Konfrontation hineingezogen wird. Vieles spricht dafür, daß in Zentralasien – rund um das Kaspische Meer und den Kaukasus, dann aber auch weiter ausgreifend bis in den russischen Fernen Osten – ein "neuer Balkan" entsteht: eine Zone verminderter Stabilität, voll ungelöster nationaler, religiöser, machtpolitischer Widersprüche. Die Amerikaner scheinen das begriffen zu haben, die Europäer noch nicht. Es geht nicht darum, Putin zu dämonisieren, aber man sollte den russischen Bären nicht in einen Plüschteddy verwandeln, der jetzt brav nach der Pfeife von Demokratie und Marktwirtschaft tanzen wird. Putin ist nach seinen eigenen Gesetzen angetreten – und das sind nicht die unseren.

Mancherorts wird Putin gepriesen, weil er fließend Deutsch spricht und seine Kinder – als er noch KGB-Resident in Dresden war – angeblich auf deutsche Schulen schickte. Doch auch das hat seine Kehrseite: Es wäre interessant zu wissen, ob Putins deutsche KGB-Seilschaften noch aktiv sind. Wenn er – was zu erwarten ist – die Deutschen mit "Sonderbeziehungen" und großen Rußlandgeschäften zu ködern beginnt, könnte eine europäische Destabilisierung die Folge sein.


 
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