© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/00 24. März 2000

 
Sozialgesetz: Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten benachteiligt
Ein Viertel weniger Rente
Felix Kilian

Wer bislang gemeint hat, das Grundgesetz gelte für alle Staatsbürger dieser Republik in gleichem Maße, wird sich jetzt eines Besseren belehren lassen müssen. Einem Teil der Rentner aus den deutschen Austreibungsgebieten wird nämlich unter Bruch des Grundrechts auf gesetzliche Gleichbehandlung die Rente gekürzt. Ein drastischer Fall von gesetzlich festgelegter Ungleichbehandlung wurde vor wenigen Tagen bekannt. Betroffen davon sind aber möglicherweise Tausende, und zwar dann, wenn sie bis zum Zusammenbruch in den Ostgebieten des Deutschen Reiches rentenversichert waren.

Das ZDF-Magazin "Mit mir nicht!" hatte Anfang März den Fall einer 1923 in Breslau geborenen und dort bis zur Flucht ansässigen Frau publik gemacht. Die gehbehinderte, auf den Rollstuhl angewiesene alte Dame hatte sich aus gesundheitlichen Gründen dazu entschlossen, ihren Wohnsitz in Deutschland aufzugeben und zu ihrer einzigen Tochter zu ziehen, die in Belgien lebt. Nach ihrer Übersiedelung erhielt sie von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Berlin den Bescheid, daß ihre Rente von bislang knapp 900 DM aufgrund ihres Umzugs künftig um mehr als 25 Prozent gekürzt werde. Als Begründung wurde der § 272 des 6. Sozialgesetzbuchs angeführt.

Dort findet sich in unschönem Amtsdeutsch verklausuliert der Passus, wonach deutsche Staatsbürger, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches gelebt, gearbeitet und ebendort Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet haben, den Entzug ihrer reichsgesetzlichen Zeiten als Bestandteil ihrer Rente hinzunehmen haben, wenn sie nach dem 19. Mai 1990 ihren Wohnsitz außerhalb des Gebietes der damaligen Bundesrepublik sowie der damaligen DDR nehmen sollten.

Dagegen sind deutsche Staatsbürger, die bis 1945 auf dem Territorium der heutigen BRD gearbeitet und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet haben, von diesem Teilentzug ihrer Rente im Falle eines Umzugs ins Ausland nicht betroffen. Grundlage für die Aufnahme dieser Regelung ist die Änderung des Sozialgesetzbuchs aufgrund des Staatsvertragsgesetzes vom 18. Mai 1990, der die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der damaligen BRD und der DDR begründete.

Auf Nachfrage räumte die BfA in Berlin ein, daß es eine plausible schriftliche Begründung für diese gesetzliche Vorschrift nicht gebe. Es sei deshalb davon auszugehen, daß es sich um eine politische Entscheidung handele.

Daß dieser Fall an die Öffentlichkeit gelangte, ist ausschließlich der Beharrlichkeit der Tochter zu verdanken. Von Belgien aus versuchte sie monatelang, Medien und Politik zu mobilisieren, zumeist vergeblich. Weder das deutsche Konsulat noch Deutschlands größte Tageszeitung nahmen sich des Falls an. Vom Büro des Petitionsausschusses in Berlin erhielt sie wenigstens eine Eingangsbestätigung der Petition.

Als die Redaktion der ZDF-Sendung dann eigene Recherchen anstellte und dabei auch den Bund der Vertriebenen (BdV) in Bonn auf die staatlich verordnete Rentenkürzung für Menschen aus den Ostgebieten aufmerksam machte, zeigte man sich dort zur Verwunderung des Senders an diesem Thema nicht interessiert.

Erst die Ausstrahlung im Fernsehen brachte dann Bewegung in die Angelegenheit. Wenige Tage danach griffen die Republikaner im Landtag von Baden-Württemberg das Thema auf und brachten dazu eine parlamentarische Initiative in den Geschäftsgang des Stuttgarter Parlaments ein. In Mainz bot sich ein Rentenberater/Rechtsbeistand an, für die Betroffene notfalls durch alle Instanzen der Gerichtsbarkeit hindurch gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klagen. In einer Pressemitteilung hat der "Zentralrat der vertriebenen Deutschen" spontan angeboten, sich im Interesse einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieses Gesetzesinhalts an den entstehenden Kosten finanziell zu beteiligen.

Die betroffene Breslauerin hat sich inzwischen dazu entschlossen, den Klageweg zu beschreiten. Über ihre Tochter ließ sie verbreiten: "Mir geht es nicht bloß darum, die mir vorenthaltenen Bezüge aus meiner Rente zu bekommen. Viel wichtiger ist mir das Prinzip. Warum wird mir und möglicherweise Tausenden anderen ein Teil der Rente nur deshalb abgezogen, weil wir aus den Ostgebieten Deutschlands stammen?"


 
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