© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
Intellektuelle: Zum 75. Geburtstag von Piet Tommissen
Tugend der Beharrlichkeit
Günter Maschke

Nichts macht einen so anständigen Eindruck wie die Beharrlichkeit, sagt Cicero einmal. Der Satz könnte über dem Leben und dem Werk des flämischen Nationalökonomen Piet Tommissen stehen, der am 20. März bei so ungebrochener wie einschüchternder Arbeitskraft seinen 75. Geburtstag feiert.

Wer noch einen Beweis für das Offenkundige benötigt, nämlich daß jede Kultur auf dem acte gratuit beruht, auf der umsonst geleisteten Arbeit, der findet ihn hier. Als Carl Schmitt nach dem Zweiten Weltkrieg zum bevorzugten Sündenbock nicht nur des deutschen Staatsrechts wurde, zur "Eiche, an der sich die Wildsäue die Schwarte scheuern" (Roman Schnur), war es, neben wenigen treuen deutschen Freunden, der junge Piet Tommissen, der unter mühseligsten Bedingungen die erste Bibliographie des Verfemten erstellte (Versuch einer Carl Schmitt-Bibliographie, Academia Moralis, Düsseldorf 1953). Das geschah lange Zeit vor der uns heute so gewohnten Allgegenwart des Photokopierers: Tommissen schrieb Hunderte von Aufsätzen von und über Schmitt peinlich genau mit der Füllfeder in der Hand ab oder tippte sie auf einer Reiseschreibmaschine mit eingelegtem Kohlepapier nach, per aspera ad astra. Dies tat er als mittelloser Student der Nachkriegszeit, für den die Erkundungsreisen nach Plettenberg eine Kette von finanziellen Abenteuern darstellten. Auf solch beschwerliche Art wurde Tommissen zum besten, sicher aber zum penibelsten Kenner des Werkes Schmitts.

Die Früchte dieser entsagungsvollen Arbeit, die in zahllose Aufsätze und Studien, in weitere Bibliographien und ab 1990 in die "Schmittiana" (erschienen bei Duncker & Humblot, Berlin) mündete, sehen wir heute als etwas Selbstverständliches an. Auch die internationale Diffamierungsindustrie, die dazu verdammt ist, Schmitts Ruhm rastlos zu mehren, wäre ohne Tommissen von einer noch traurigeren Gestalt.

Tommissen, der an der Ökonomischen Hochschule Brüssel und an der Jesuitenuniversität Antwerpen Nationalökomonie studierte und "nebenbei", bis 1972, als Prokurist in der Industrie sein Brot verdienen mußte, promovierte 1971 über Vilfredo Pareto. Die Dissertation "De economische epistemologie van Vilfredo Pareto" (Sint-Aloysiushandelshogeschool, Brüssel 1971) muß als eines der bedeutendsten, wirklich grundlegenden Werke über den großen Mann ohne Illusion angesehen werden. Wer sich mit dem Italiener Pareto ernsthaft befassen will, der muß das Flämische zumindest lesen lernen. Dennoch mag man bedauern, daß Tommissen sein Buch nicht deutsch oder französisch niederschrieb: der Ruhm ist ungerecht und den kleinen Sprachen abhold.

In diesem Werk stoßen wir bereits auf den "ganzen" Tommissen: den auf eine selbstverständliche, naturwüchsige Weise interdisziplinären Betrachter, der die Hohe Kunst des Bezüge-Herstellens beherrscht. Wir werden also nicht nur gründlich belehrt über die Probleme der europäischen Nationalökomonie bis nach dem Ersten Weltkrieg, sondern der politische, philosophische und psychologische Hintergrund des "Einsamen von Céligny" wird uns so eindrücklich wie liebevoll nahegebracht. Keine Detailforschung wird diese Schrift überflüssig machen können.

Man mißversteht Tommissen, wenn man ihn, der von 1972 bis 1990 als Professor an der Handelshochschule Brüssel tätig war und dort die oft unerwartete Schätze bergende Reihe "Eclectica" herausgab, nur als Pareto- und Schmitt-Spezialisten sieht oder, was zumindest in Deutschland wenige wissen, als Kenner von Georges Sorel, Julien Freund und des französischen politischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert. Tommissen wollte, nach seinen eigenen Worten, stets "Geistesgeschichte im weitesten Sinne" betreiben.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist sein Buch "Economische systemen" (Uitgeverij N.V. Deurne, 1987). Auf knappem Raum wird hier die Geschichte der ökonomischen Ideen von der Antike bis zum post-maoistischen China dargestellt und die zahllosen Fußnoten und inhaltlichen Hinweise erschließen uns nicht nur das Drama des Ökonomischen, sondern auch den politischen, kulturellen und ideologischen Wurzelgrund des arbeitenden Menschen in der Geschichte. Ein gutes Buch macht die Lektüre von hundert anderen überflüssig und ermuntert zur Lektüre von tausend weiteren – voilà!

Immer wieder überrascht dabei das außerordentliche literatur- und kunstgeschichtliche Wissen Tommisses, der lange Zeit mit dem Gedanken spielte, Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren, der den europäischen Surrealismus und Dadaismus bis in alle Verästelungen überblickt und der, noch keine dreißig Jahre alt, Autoren wie Heinz Piontek und Heinrich Böll zu Lesungen nach Flandern einlud (man ist versucht zu sagen: als diese noch interessante Schriftsteller waren).

Nur wer sich der Leistung Tommissens bewußt ist, darf ihn auch kritisieren: der Meister der Fußnote ist dieser oft allzu eifrig zugetan, weil er die Kenntnisse seiner Leser gerne unterschätzt. Doch nicht der Hochmut ist es, der dabei sein Handeln bestimmt und auch nicht die Eitelkeit, – es ist die Menschenliebe. Der Mensch ist zu gegenseitiger Hilfe geboren, und deshalb ist Piet Tommissen auch fähig, sich noch vom jüngsten und unerfahrensten Skribenten belehren zu lassen.

Stets auskunftsfreudig, stets mit hartnäckiger Liebenswürdigkeit Auskunft erheischend, hat Tommissen zu vielen wissenschaftlichen Arbeiten oft mehr beigetragen, als es manche Undankbaren ihr Publikum ahnen lassen. Ein Mann von so eigenem und beträchlichem Kaliber hat gerade deshalb ein Anrecht auf Ehrung, weil er einen guten Teil seiner Lebenszeit treu und willig Größeren, wie etwa Vilfredo Pareto und Carl Schmitt, widmete. Man ist versucht, an einen so brillanten Essayisten und souveränen Erzähler wie Adolf Frisé zu denken, der sich nicht zu schade war, Jahrzehnte hindurch das Werk Robert Musils zu erschließen und zu propagieren. Häufig leuchtet das unter den Scheffel gestellte Licht am hellsten. Ad multos annos, Piet Tommissen!

 

Günter Maschke, Jahrgang 1943, lebt als Schriftsteller und Privatgelehrter in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge für Rundfunk, Zeitungen und wissenschaftliche Zeitschriften, insbesondere zum Werk von Juan Donoso Cortés und Carl Schmitt.


 
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