© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
Kohl und die Rechte
von Caspar von Schrenck-Notzing

m Frühsommer 1960 sprach der Bundesminister Hans-Joachim von Merkatz (Deutsche Partei) – er galt als der programmatische Kopf der Konservativen – in einem Münchner Herrenkreis. Was er vortrug, ist vergessen. Im Gedächtnis blieb eine vertrauliche Runde in Merkatzens Hotelsuite. An den Gerüchten, seine Partei wolle sich der CDU anschließen, sei nichts dran. Alles bleibe beim Alten. Denn man könne mit einer kleinen, aber eigenständigen Organisation weit mehr erreichen als in einer großen Mischmasch-Partei. Hätte Merkatz sich statt an Upper-Class-Konservative an Soziologen gewandt, hätte er auch auf die "produktive Überlegenheit von Solidaritätskernen" (H. Popitz) verweisen können.

Kurz darauf war der Presse zu entnehmen: Merkatz und sein Ministerkollege Seebohm seien mit 9 der 15 Bundestagsabgeordneten der DP überraschend zur CDU übergetreten, ohne sich auch nur von ihrem Parteichef Hellwege zu verabschieden, von den Mitgliedern und Wählern der DP ganz zu schweigen. Wahlen standen bevor, die Chancen der DP waren lausig, und Konrad Adenauer hatte dem Leiter der "Staatsbürgerlichen Vereinigung" in Niedersachsen geraten: "Drehen Sie der DP janz einfach den Jeldhahn zu." Offensichtlich war die Stunde gekommen, wo dem Berufspolitiker das Hemd des persönlichen Fortkommens näher ist als der Rock der Solidarität mit Gesinnungsfreunden. Wer wollte das schon verübeln? Schließlich ist eine Partei ein Zweckverband von Funktionären. Auch eine konservative Partei wäre im Zweifelsfall mehr Partei als konservativ.

Damals schrieb Marion Gräfin Dönhoff in der Zeit vom 8. Juli 1960 einen noch heute zitierten Artikel: "Das Ende der Konservativen." Ihr Fazit war: Da pragmatische Fragen und Zweckvorstellungen in der Politik die geistigen Konzeptionen verdrängt haben, gibt es keinen Platz mehr für eine konservative Partei. 40 Jahre später stellt der Spiegel vom 28. Februar 2000 auf dem Titelblatt die Frage "Was ist heute konservativ?" und unterlegt sie mit Bildern von CDU/CSU-Politikern plus Bismarck und Haider. Die Süddeutsche Zeitung vom 18. Februar 2000 orakelt über eine "Implosion des europäischen Konservatismus", die als Anfang vom Ende der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie begriffen werden müsse. Denn in Zukunft würden Konflikte bilateral zwischen Regierungen (bzw. Kommissionen) und Interessenverbänden gelöst, unter Umgehung der Parlamente. Das mag ja sein, doch wieso ist jetzt plötzlich die CDU, wie die Medien-Sprachregelung der letzten Wochen suggeriert, eine konservative Partei? Ihre Parteigremien haben das Etikett immer wieder von sich gewiesen, und für Konservative, heute mehrheitlich Nichtwähler, ist die kritische Distanz zur CDU charakteristisch.

Die Volks-, in Wirklichkeit aber Funktionärspartei, die sich nach dem Regierungsverlust von 1969 aus den Trümmern der Kanzlerwahlpartei herausbildete, "wendet" sich zwar "an alle Menschen, in allen Schichten und Gruppen" (Ludwigshafener Grundsatzprogramm von 1978), schleift aber auch Gesinnungen, Interessen, Milieus und gar "geistige Konzeptionen" innerhalb der Partei ab und sieht ihr Ziel in der Geschlossenheit der Organisation, der Beliebigkeit der Inhalte und der Maximierung der Wählerstimmen.

Dennoch gab es auch in der Ära Kohl noch Konservative in der Union, wenn auch in schwindender Zahl, die überall dort fester Fuß fassen konnten, wo die Landesvorsitzenden eine Konfrontation mit den Linken nicht scheuten, wie in Hessen unter Alfred Dregger, in Bayern unter Franz Josef Strauß, in Baden-Württemberg unter Hans Filbinger.

Kohl, alles andere als ein Konservativer, ist die Volkspartei in einer Person. Er begann als Prototyp des "Jungen Wilden", der den Vorstand der rheinisch-pfälzischen CDU, in den er hineindrängte, als "Vereinigte Kalkwerke" beschimpfte, er stieg unter dem Etikett eines "Reformers" auf, kultivierte Abhängigkeiten und Seilschaften, war bis zur Wahl zum Ministerpräsidenten als Lobbyist des Verbands der Chemischen Industrie berufstätig und verkörperte schließlich den ruhenden Pol der Mitte, gemäß seiner Definition "Die Mitte ist, wo ich bin."

Kohl beherzigte die Dönhoffsche Erkenntnis, daß pragmatische Fragen und Zweckvorstellungen in der Politik die geistigen Konzeptionen verdrängt haben, auch wenn er es etwas anders ausdrückte: "Es zählt nur, was hinten herauskommt." Sein Biograph Karl-Heinz Pruys schrieb 1995: "Kohl steht für keine bestimmte Politik und verfügt weder über eine Konzeption, ein spezifisches Programm, noch ein weltanschaulich-philosophisches Credo, eine Vision, wie auch immer. Er ist ein Praktiker comme il faut, das ‚Genie des Gegenwärtigen‘ wie Lothar Gall es ausdrückte. Kohl hat noch keine Idee geäußert, über die sich länger als zwei Minuten nachzudenken lohnte."

Das alles ist durchaus kein Nachteil und kann sogar zu hervorragenden Wahlergebnissen führen. Kein Wähler wird durch Nachdenken dabei gestört, seine Erwartungen in den ausgeguckten Kandidaten zu projizieren. Doch gibt es im politischen Wettstreit keinen Gebrauchsmusterschutz. Im letzten Wahlkampf zog die SPD acht politikfremde, aber in der Markenartikelwerbung erfahrene Partneragenturen nach neuesten amerikanischen Modellen in einem war room zusammen, einer parteiexternen Wahlkampfzentrale namens "Kampa 98". Dem Kandidaten Schröder wurde erfolgreich ein verwaschenes Image verpaßt, das unter dem Namen "neue Mitte" segelte. Die alte Mitte, ausgebrannt und personell erschöpft, konnte sich nur noch als "altes Schlachtroß" empfehlen, das "es noch einmal wissen will". Kampa 98 gegen Pastor Hintze, das war ein ungleiches Duell.

War das Auseinanderlaufen der Deutschen Partei wirklich das Ende der Konservativen? Parteigeschichtlich vielleicht. Die DP war eine auf der Welfenpartei der Besiegten von 1866 zurückgehende und aktuell auf die Milieus der niedersächsischen Bauern und der hanseatischen Kaufleute gestützte Regionalpartei. Organisatorisch und propagandistisch vertrat sie noch das Stadium der Honoratioren-, nicht der modernen Massenparteien. Der Terminus "konservativ" deckte sich nur anfangs mit einer parteipolitischen Strömung. 1832 war die Conservative Party unter Sir Robert Peel an die Stelle der altehrwürdigen Tory-Partei getreten. Grund war eine Wahlrechtsreform, die neue Wähler aus dem städtischen Mittelstand an die Urnen brachte. Die landesweiten Parteiorganisationen der britischen Konservativen fanden in Ländern, wo parlamentarische Vertretungen aufkamen, Nachahmung. So verbreitete sich auch der Terminus.

Doch seither ist viel Wasser die Themse und die Spree hinuntergeflossen. Die Briten unterscheiden einen Konservatismus mit dem "big C" (Conservative Party) und dem "small c" (conservative). Letzteres besteht in einer bestimmten Einstellung zum Leben, die teils tradiert und teils instinktiv ist, manchmal auch einer Denkschule, die stärker auf die Literatur und die Geschichte, die Philosophie und die Theologie zurückgreift als auf Parteiprogramme. In Deutschland wird eine geistig-politische Strömung die etwa seit 1770 dem Auftauchen von Parlamenten vorausging, aber dem Entstehen einer "Öffentlichkeit" parallel lief, "konservativ" genannt, obwohl sie den Terminus noch nicht kannte. Zeitschriften, Vereine, Broschüren vertraten konservative Gedanken schon lange vor Parteien, von den großen Dichtern, Goethe zumal, ganz zu schweigen. Konservative Parteien und konservative Einstellungen liefen nebeneinander her.

Der Konservatismus ist nie eine private, sondern stets eine auf das Gemeinwesen bezogene Denkrichtung gewesen. Wenn den Konservativen auch die Überfunktion der politischen Drüse abgeht, die für Radikale aller Art typisch ist, so stehen sie nicht selten im Konflikt, weil das Gemeinwesen oft keinen Platz für entgegengesetzte Grundsatzpositionen bietet. Zum "schwierigen Konservatismus" (G.K. Kaltenbrunner) kommt es, wenn das Gemeinwesen nicht mitspielt. Da der Konservatismus alter Schule Institutionen voraussetzt, denen er seine Maßstäbe entnimmt (Staat, Recht, Familie, Kirche, Wissenschaft, Armee, Krone), wird es für ihn eng, wenn die Aufweichung der Institutionen zugunsten eines subjektiven Moralismus den öffentlichen Diskurs bestimmt. Wer durch Lebenserfahrung, familiäres Erbe, persönliche Entwicklung oder literarische Einflüsse sich dem Konservatismus zuwendet, wird in der Öffentlichkeit wenig finden, was ihm hilft, sich zu artikulieren. Die durch Elisabeth Noelle-Neumann im Zuge der Meinungsforschung entdeckte "Schweigespirale" und das "doppelte Meinungsklima" gehören zum konservativen Alltag.

Das Institut für Zeitgeschichte stellte anläßlich seines 40jährigen Jubiläums die Frage nach der Periodisierung der Geschichte der Bundesrepublik. Die Antwort liegt auf der Hand: Es gibt zwei Abschnitte, vor und nach 1960. Ein neues Werk, Albrecht/Behrmann/Bock: "Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule" (JF 9/00 vom 25. Februar) hat die Schwellenjahre um 1960 gründlich durchleuchtet. Die institutionelle Gründung der Bundesrepublik mit Grundgesetz, Errichtung der Wirtschafts- und Sozialordnung und der Aufstellung deutscher Streitkräfte im Rahmen der NATO war mit der Souveränitätserklärung vom 5. Mai 1955 im Prinzip abgeschlossen. Mit dem Berlin-Ultimatum Nikita Chruschtschows (27. November 1958) setzte die bisher schwerste Krise der Bundesrepublik ein. Mit dem Bau der Berliner Mauer (13. August 1961) und einschneidenden Statuseinbußen der Bundesrepublik flaute die Krise ab. Sie war aber mit der sogenannten Kölner Synagogenschmiererei (Weihnachten 1959) und dem auf sie folgenden Meinungsdruck der "Weltöffentlichkeit" auf eine symbolische Ebene gehoben und auf Dauer gestellt worden. Neben die institutionelle Gründung trat eine zweite, die informelle "intellektuelle Gründung", die auf den drei Säulen "Demokratisierung", "Westbindung" und "Vergangenheitsbewältigung" ruhte und bis heute ruht. Die Repräsentanten der intellektuellen Gründung überwachen fortan die Repräsentanten der institutionellen Gründung.

Bis zum Schwellenjahr 1960 gab es zwischen den Konservativen und der CDU wenig Reibungsflächen. Adenauer protegierte zudem die Konservativen in der Koalition (Deutsche Partei) und in der Partei (Oberkirchenratsflügel mit Ehlers, Gerstenmaier, Cillien). Das geistige Klima war ganz allgemein konservativ grundiert. Konservative Publikationen spielten auf dem Buchmarkt eine Rolle. Die bekanntesten geistigen Köpfe waren Heidegger, Jünger und Benn. 1960 war das Jahr eines Paradigmawechsels, eines Umstellens der Wegweiser. Die Resultate stellten sich bald ein. Besaß vor 1960 der CDU-nahe Rheinische Merkur eine höhere Auflage als die Zeit, erreichte letztere, als sie sich zum Sprachrohr der "intellektuellen Gründung" gemacht hatte, schnell die dreifache Auflage des Rheinischen Merkur. Ein Vergleich des Großen Brockhaus von 1962 – 1973 mit der politisch korrekten Brockhaus-Enzyklopädie von heute ist der beste Einstieg in vergleichende Zeitgeiststudien. Es folgten 40 Jahre eines "Wertewandels", immer geradeaus auf der Einbahnstraße, in die 1960 eingebogen wurde. Da die sich wie ein Ölfleck ausbreitende "Kulturrevolution" zunächst "nur" die Kultur im weitesten Sinn betraf und rechtliche, wirtschaftliche und parteipolitische Positionen nicht weiter tangierte, war sie der CDU ziemlich schnuppe.

Seit dem Schwellenjahr drifteten Konservative und CDU auseinander, so wie es den "geistigen Konzeptionen" hier, den "pragmatischen Fragen und Zweckvorstellungen" dort entsprach. Die CDU trat der 68er Revolte entgegen, indem sie durch das Parteiengesetz von 1967 und den Beginn der exorbitanten Parteienfinanzierung ihre eigene Position zementierte. Eberhard von Brauchitsch, Kenner und Pfleger der Bonner politischen Landschaft, schrieb: "Mit den Steuermillionen werden die etablierten Parteien nicht zuletzt auch dafür alimentiert, daß sie neue politische Gruppierungen abwehren. Dies hat einen freien Politikwettbewerb verhindert und unter anderem dazu geführt, daß es in Deutschland heute keine wirklich konservative Partei gibt." (Der Preis des Schweigens, 1999).

Nun rächte sich das Auseinanderlaufen von 1960. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre regte sich ein konservativer Widerstand gegen die kulturelle Linksdrift. Es war der alte Konrad Adenauer, der seine letzte Rede auf deutschem Boden anläßlich der ersten Preisverleihung der Konrad-Adenauer-Preise der Deutschland-Stiftung hielt. In der Folge wurde der Preis an die bekanntesten Konservativen verliehen. Erst in den neunziger Jahren konnte die CDU die Stiftung in ihre Dienste nehmen. Konservative verschwanden aus der Preisträgerliste. Kohl wurde geehrt. Er zwang den Vorsitzenden Gerhard Löwenthal zum Rücktritt. Wenn Angela Merkel laut FAZ vom 7. Februar 2000 sagt: "Kohl hat immer versucht, alles auszureizen, was er an Erpressungsmaterial gegen andere hat", dann haben die Konservativen das Vorgehen des großen Fingerers und "genialen Telephonierers" (Kurt Biedenkopf) vom Beginn seines Parteivorsitzes an weidlich zu spüren bekommen.

 

Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing, Jahrgang 1927, studierte Geschichte und Soziologie. 1970 gründete er die Zeitschrift "Criticón", deren Herausgeber er bis 1998 war. Wichtigste Veröffentlichungen: Charakterwäsche – Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen; Zukunftsmacher – Die neue Linke in Deutschland und ihre Herkunft; Lexikon des Konservatismus (als Hrsg.)


 
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