© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
V. Gerhardt / R. Mehring / J. Rindert: Berliner Geist
Von Hegel zu Niekisch
Anica Tietze

Mitten im innerstädtischen Smog mag es leicht fallen, sich wenigstens unter der sagenhaften "Berliner Luft" etwas Spezifisches vorzustellen. Schwieriger ist es da schon mit der "Berliner Republik": Denn mit ihr augenblicklich mehr zu verbinden als nur den Bühnenwechsel der Bonner Bimbes-Demokratie vom Rhein an die Spree, dürfte auch Illusionisten kaum gelingen. Vollends rätselhaft klingt jedoch, was uns der Titel eines wissenschaftshistorischen Werkes nun zumutet: der "Berliner Geist". Mit Blick auf Bücherverbrennung und NS-Rassenpolitik durfte doch in jeder Geschichtsdebatte ausschließlich vom hauptstädtischen "Ungeist" die Rede sein. Oder vom "preußischen Geist", aber auch das ist regelmäßig nur ein bundesdeutsches Synonym für Militarismus und Untertanen-"Ungeist" unseligen Angedenkens. Soll jetzt plötzlich mit dem "Berliner Geist" der konturenlosen "Berliner Republik" eine positive Tradition offeriert werden?

Den Verfassern schienen derartige volkspädagogische Intentionen tatsächlich nicht ganz fern zu liegen. Erlebten sie als West-Importe an der Humboldt-Universität doch hautnah das ideologische Vakuum, das sich mit der Abwicklung der Protagonisten des Marxismus-Leninismus dort auftat. Vor allem der an Kant und Nietzsche geschulte Ordinarius Volker Gerhardt und sein als Carl-Schmitt-Verächter einschlägig bekannter Assistent Reinhard Mehring mühen sich seit Jahren darum, weltanschaulichen Ersatz zu vermitteln. Und exakt nach dieser Vorgabe sortieren sie ihre Funde im Steinbruch der Berliner Philosophiegeschichte. Positive Identifikationsfiguren sind dann natürlich die jüdischen Dozenten Georg Simmel (1858–1918) und Ernst Cassirer (1874–1945), denen umfangreiche Kapitel gewidmet sind, während die "üblichen Verdächtigen", notorische Finsterlinge wie der Judengegner Eugen Dühring (1833–1921), der Nationalsozialist Alfred Baeumler (1887–1968) und der als "politischer Abenteurer" eingestufte, von der SED bis 1954 als Dozent geduldete Ernst Niekisch (1889–1967) quasi im Schnellverfahren und unbesorgt um die offenkundig fehlende eigene Sachkenntins abgehakt werden.

Dieses selektive Vorgehen soll dann die "Kontinuitätsbehauptung und Traditionskonstruktion" der Verfasser rechtfertigen. Da man zugleich einem positivistischen Vollständigkeitsanspruch genügen will, sieht sich der Leser von einer Namensflut überrollt, die man aus Ziegenfuß’ Philosophenlexikon oder Kürschners Gelehrtenkalender extrahiert hat. Als besinnungslose Aufzählung läßt sie nirgends das versprochene, spezifisch berlinische Profil erkennbar werden. Und nicht einmal zwischen den Exponenten dieser gewaltsamen "Formationsgeschichte", zwischen Cassirer, Simmel und dem zum "exemplarischen" Berliner Denker stilisiertenWilhelm Dilthey (1833–1911) ist ein intellektueller Konsens erkennbar.

Fruchtbarer wäre es gewesen, an Eduard Sprangen anzuknüpfen. Er hatte 1960 die Berliner Universität als den Ort bestimmt, wo man ein "weltanschauliches Hauptproblem" unseres Jahrhunderts verhandelte: den Historismus, dessen relativierende Kraft die "großen Erzählungen" der politischen Theologien zersetzte. Das Historismusproblem hat wirklich die meisten Berliner Philosophen seit der Jahrhundertwende umgetrieben, von Dilthey bis zu Nicolai Hartmann (1881–1950). Und deswegen wäre Sprangers These diskutabel, wonach das vom Historismus verschuldete "Versinken im Relativismus" dazu führte, daß auch die Berliner Universität unter die Herrschaft der nationalsozialistischen wie der marxistischen "Gruppenideologie" geriet, die absolute Gewißheiten an die Stelle relativer Wahrheiten setzten. Aber diese "postmoderne" Berliner Tradition kann fundamentalistischen Universalisten wie Gerhardt und Mehring natürlich nicht ins Konzept passen.

Zu diesem Konzept gehört auch der diffuse Rekurs auf "Selbstbesinnung" des Individuums, der angeblichen Mitte von Diltheys Philosophie. Und überhaupt habe alles Unheil damit begonnen, daß die Philosophie ihren "Ausgangspunkt beim Individuum" negiert habe. Was schon dazu geführt habe, daß "die großen emanzipatorischen Ideale des Marxismus" erstickt worden seien. Auch dies ist die Argumentation einer Traditionskonstruktion in liberaldemokratischer Absicht.

Dabei war die Berliner Universität von Anfang an eine politische Hochschule, gegründet 1810 im Zuge der Reorganisation des preußischen Staates. Daß Fichte, Schleiermacher und Hegel politische Denker und Nationalpädagogen waren, ebenso wie Trendelenburg, Zeller, Harms und Paulsen, im 20. Jahrhundert dann Troeltsch, Spranger und Baeumler, und unter den Privatdozenten eine kaum überschaubare Schar politisierender Sozialreformer und Weltanschauungsapostel jeglicher Couleur sich findet – das blenden die Verfasser zugunsten des von ihnen favorisierten "individualistischen Profils" der Berliner Philosophie systematisch aus. Dabei scheuen sie selbst nicht die infantil-weltfremde Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, derzufolge erst nach 1918 die Ideologien auf den Berliner Lehrstühlen den Geist der Wissenschaft "politisiert" und somit zerstört hätten.

Ausgerechnet der Wilheminismus, dessen architektonische Hinterlassenschaft in Berlin-Mitte Bonner Bilderstürmer gern entsorgt sähen, soll also den ideellen Extrakt des Berliner Geistes liefern: Dilthey und Simmel statt Treitschke und Max Weber, Individuum und Menschheit statt Volk und Nation, Psychologie statt Religion, Kultur statt Politik.

Die weltanschaulichen Orientierungen des wilhelminischen Spätliberalismus, die die Verfasser zur Wiederbelebung empfehlen, hat man einmal als Verfallssymptome unter dem Begriff der "Verschweizerung" gedeutet. Eingedenk der zentralen Rolle, die eidgenössische Bankkonten in der bundesdeutschen politischen Landschaftspflege spielen, kann man den Autoren zumindest nicht vorwerfen, sie hätten bei ihrem Versuch der Traditionsstiftung für die Berliner Republik kein Gespür für geistige Wahlverwandtschaften bewiesen.

 

Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie, Akademie Verlag, Berlin 1999, 338 Seiten, 74 Mark


 
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