© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000

 
Debatte: Plötzlich fragt man "Was ist konservativ?"
Mitten im Leben
Baal Müller

Wer die heutigen politischen Diskussionen darüber verfolgt, wie mehr Geld gespart werden könne, wessen Skandale die schlimmeren seien oder wer sie immerhin besser aufklären würde, hat meist nicht den Eindruck, daß sich die Kontrahenten wesentlich unterscheiden. Man braucht sich nur die Debatten früherer Jahrzehnte ins Gedächtnis zu rufen, und man sieht Welten liegen zwischen einem Adenauer und einem Schumacher, einem Strauß und einem Wehner, ja selbst noch zwischen Kohl und seinen diversen sozialdemokratischenHerausforderern der achtziger Jahre.

Es ist ein Gemeinplatz, daß die üblichen Unterscheidungen zwischen links und rechts, progressiv und konservativ nicht nur uneindeutig geworden, sondern womöglich gänzlich überholt sind. Alle sind schließlich für Globalisierung, Technologie, Umwelt und Europa, alle sind gegen zu hohe Staatsausgaben, Steuern, Arbeitslosigkeit; jeder sieht sich gern als "Manager der Deutschland AG", denkt in ökonomischen Katagorien und redet viel von Menschenrechten.

Eine Sache ist es freilich, ob die herkömmlichen politischen Kategorien andere Phänomene bezeichnen als früher, folglich neu interpretiert und zugeordnet werden müssen, eine andere, ob sie überhaupt nicht mehr anwendbar und gegenstandslos geworden sind. Für die zweite These würde eine streng historische, ja historistische Auffassung plädieren: Konservative und progressive Haltung wären dann nur aus einem bestimmten historischen Abschnitt heraus zu verstehen, den man mit der Herausbildung des fürstlichen Absolutismus, der Französischen Revolution oder der Industrialisierung beginnen und mit dem Untergang der europäischen Monarchien, dem Fall der Mauer oder der digitalen Revolution enden ließe. Der Konservatismus erschiene als Ideologie einer gesellschaftlichen Schicht, in Deutschland speziell des preußischen Adels, wäre in seinen zentralen Merkmalen bereits im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert ausgebildet gewesen und hätte mit der politischen Bedeutung seiner Träger auch seine geistige Existenz eingebüßt. Ähnlich wie etwa das Dandytum, das als gesellschaftliche Erscheinung aus dem Wechsel der Eliten und einer habituellen Fusion von formaler Aristokratie und inhaltlicher Bourgeoisie entstand, oder die Boheme, die aus dem Gegensatz von Künstler und Bürger resultiert, wäre auch der Konservatismus eine historische Erscheinung.

Die entgegengesetzte Position würde den Kategorien des Konservativen und Progressiven hingegen eine vielleicht die gesamte Menschheitsgeschichte umfassende und möglicherweise zeitlose und ewige Bedeutung zusprechen. So wäre es denkbar, daß sie etwa aus dem Geschichtsprozeß selbst resultierten, insofern dessen Fortschreiten zu allen Zeiten die Frage aufwerfe und aufgeworfen habe, welche Teile des kulturellen Erbes zu bewahren und welche zu verwerfen seien. Zumindest seitdem der Mensch historisch existiert und vielleicht sogar immer, wenn Geschichtlichkeit zu seiner existenziellen Verfassung gehören sollte, hätte es folglich einen Konservatismus gegeben.

Neben dieser eher formalen und strukturellen Bestimmung des Konservatismus steht seine inhaltliche Ableitung: Entscheidend ist dann nicht mehr die Orientierung am Überlieferten als solchem, sondern an dessen Sinn und Wahrheit. Seinem Selbstverständnis nach beruft sich der Konservative schließlich meist nicht auf das Alte, bloß weil es alt ist, sondern er begründet seine Position pragmatisch, anthropologisch oder metaphysisch, weil sich das Althergebrachte bewährt habe, der menschlichen Natur entspräche oder letztlich auf einen göttlichen Willen zurückgehe.

Die anthropologische und die metaphysische Begründung und die aus ihnen folgende Berufung auf ewig gültige Werte haben zweifellos das größte Gewicht; sie unterliegen damit jedoch auch einem besonders starken Rechtfertigungsdruck und müssen sich gegen wissenschaftlichen Fortschritt bzw. konkurrierende Weltbilder behaupten. Jede Diskussion um einen zeitgemäßen Konservatismus wird die jeweilige Tragfähigkeit auszuloten haben, die das lebensweltlich-pragmatische, das wissenschaftlich-anthropologische und das religiös-metaphysische Erklärungsmodell anbieten.

Neben diesen letztlich auf ein verbindliches Ethos abzielenden Vorschlägen bleibt jedoch eine Motivation für einen heutigen Konservatismus, im Zeitalter der Globalisierung, außer Acht: der Wille zur Differenz, die Langeweile am Gleichen, die Lust zum Verschiedenen. Mit anderen Worten: die ästhetische Auffassung der Welt.

 

Baal Müller, 29, hat Germanistik und Philosophie studiert und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion über Stefan George


 
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