© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/00 10. März 2000

 
Durs Grünbein: Nach den Satiren. Gedichte
Das Ende der Saturiertheit
Doris Neujahr

Bei dem Lyriker Durs Grünbein, der 1962 in Dresden geboren wurde, läuft die Frage nach seiner Herkunft aus Ost oder West ins Leere, denn Grünbein hatte sich früh angewöhnt, die Gegenwart und die Zukunft mit demselben distanzierten Blick zu betrachten wie das Römische Reich: einem Blick, unter dem schon "der Morgenhimmel pompejanisch rot" aufglänzt. Diesen Kunstgriff und Bewußtseinsakt führt der Autor ausdrücklich auf den Kirchenvater Augustinus zurück, dem es in seinen berühmten Meditationen über die Zeit darum ging, "das noch Künftige in die Vergangenheit (hinüberzuschaffen), so daß um die Minderung der Zukunft die Vergangenheit wächst, bis schließlich durch Aufbrauch des Künftigen das Ganze vollends vergangen ist".

"Nach den Satiren" heißt Grünbeins neuester Gedichtband, was erstens das Ende einer Saturierten-Poesie verkündet, in der noch die bissigste Kritik Selbstgenuß und Einverstandensein bedeutet. Einer Poesie aber auch, die von klaren moralischen Kategorien ("Noch stand an keiner der Mauern Was ist das Böse?") ausgehen konnte. Zum dritten beschwört der Titel den Geist seines allgegenwärtigen Mentors Heiner Müller, des "Fabel- und Fallenstellers / Im Selbstgespräch mit den deutschen Gespenstern", der seinen Verbleib in der DDR damit begründet hatte, daß sich im Osten noch Tragödien ereigneten, im Westen nur die weniger interessanten Komödien. Grünbein, der Dialektiker, hält sich bei solchen Alternativen nicht mehr auf, sondern seziert das alternativlos gewordene Komödiantenstadl mit sicherer Hand, um festzustellen, daß auch "das Gewölbe aus Übermut, / Auf dem man so sicher ging, lautlos zusammenstürzt" und "die Kälte hereinweht, der Haß".

Autoren wie Botho Strauß haben daraus die Rückkehr der Tragödien gefolgert. Für Grünbein sind die kollektiv erinnerten Vergangenheiten oder Utopien, aus denen sie sich speisen, nur noch "ein Rest von Lüge familiär geteilt – als Proviant". Bereits in seinem Gedichtband "Schädelbasislektion" (1991) hatte er den "Großen Gesängen" über die wieder in Gang gekommene Geschichte mit einem Hinweis auf die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit eine Absage erteilt: "…langsam kommen die Uhren auf Touren / jede geht anders".

"Nach den Satiren" ist auch der zentrale, aus vier Langgedichten bestehende Zyklus dieses Bandes betitelt, der mit einem programmatischen Satz des römischen Dichters Juvenal eingeleitet wird: "In der Stadt zu schlafen kostet viel Geld, / Davon rühren alle Übel her". Der erste Teil, "Historien", handelt von geschichtlichen Figuren und Begebenheiten, vornehmlich aus dem Römischen Kaiserreich. Der dritte Zyklus, "Physiognomischer Rest", ist eine lockere Sammlung von Reise- und Stadtgedichten. Der Weltenbummler sinniert darin über den Genius loci populärer Orte in der Alten und Neuen Welt, stellt sich dem Chaos der Simulationen, der medialen Bilder und globalen Vernetzungen, um sich eine geistige Biographie zu erarbeiten, die zumindest als Fragment, als "Physiognomischer Rest" eben, lesbar ist. Seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in begreifbare Bilder zu fassen und klassisches Bildungsgut zu aktualisieren, ist beeindruckend.

In "Aporie Augustinus (Über die Zeit)" nimmt er Bezug auf die "Bekenntnisse" des Kirchenvaters. Er spitzt dessen Erfahrung innerer Zerrissenheit – "ich aber splittere in Zeit und Zeit" – dramatisch zu, denn eine Anrufung Gottes als letzte, unangefochtene Instanz des Trans-zendentalen, in deren Zeichen Augustinus hoffte, "ein ungeteiltes Eines" zu werden, kommt für den Spätgeborenen selbstredend nicht mehr in Betracht: "Zeit ist das Seil das ein Esel frißt und herausscheißt, verknotet. / Und der Esel gehört einem Mann der die Knoten löst / Und dem Tier von neuem das Seil hinhält, mangels Futter: / Und der Esel macht statt zu rülpsen den Laut / Den nur der Esel beherrscht, vollendet."

Im Gedicht "Griechischer Abschied. Eine Stele" greift der Trauernde auf dem Relief hilfesuchend nach der Hand des Toten. Doch ist der Verstorbene gerade wegen seines Erkenntnisvorsprungs, den ihm die Entrückung aus dem Reich der Lebenden verschafft hat, nicht in der Lage zu helfen. "Er weiß, / Daß vor ihm nichts mehr kommt", und selbst die Vergangenheit ("Sein Grab wird leer sein") beginnt ihm abhanden zu kommen. Zwischen seiner Erfahrung des Nichts und der Welt der "Täuschungen" (deren letzte die Grabinschrift ist), in die die Lebenden unentrinnbar eingesperrt sind, gibt es keine kommunikative Brücke. Er hat Mitleid mit dem Trauernden und schämt sich für dessen erwartungsvolle Unbedarftheit. Als einzig erreichbares Echte im Leben kann er ihm die intensive physiologische Wahrnehmung empfehlen: "Es ist nichts, / Was sich vergleichen ließe mit den Thymianwiesen, / Den Schatten unter Pinien…" Zwei der Identifikationsmöglichkeiten, die sich dem Leser anbieten, seien genannt: Zum einen die mit dem Trauernden auf der Stele, und zweitens die mit dem vom Dichter implizierten Betrachter. Im ersten Fall muß er erkennen, daß die Toten durch ihren erzwungenen Verzicht auf Täuschungen und Selbsttäuschungen paradoxerweise "vitaler" sind als die Lebenden (eine Variation des Satzes "Die schatten atmen kräftiger" in Stefan Georges "Porta Nigra"), im zweiten Fall akzeptieren, daß ihm die antike Kunst (anders als noch in Rilkes "Archaischer Torso Apollos") keine Wegweisung mehr gibt.

Der Rekurs auf eine höhere, sinnstiftende Instanz verbietet sich Grünbein schon wegen des Ideologieverdachts. Die Sehnsucht nach Transzendenz und der Wille, die Essenz geschichtlicher Erfahrungen zu ergründen, bleiben indessen wirksam: "Es gab so vieles, / Wo alles anfing, hier, am kapitalen Ende", schreibt Grünbein in einem seiner zehn Venedig-Gedichte. Sie äußern sich bei ihm in einer extremen physiologischen Sensibilität oder, wie er selber sagt, "Reizbarkeit": "Der erste Blick und der letzte / Kreuzen einander, in einer Drehung… Im Schwarz der Pupille ertrinken / Landschaften, Menschen und Städte". In diesem Vorgang gelingt ihm eine Großstadtpoesie von atemberaubender Evidenz: "Autos gleiten vorüber, friedlich schillernde Hechte / Im verregneten Schilf" oder: "Dresden, die Restestadt… ein Hinterhalt / Für Engel, die der Krieg hier internierte / Vorm Rückflug."

Durch Bildung, Sprachgewalt und Intellekt ist Durs Grünbein konkurrenzlos unter den Schriftstellern seiner Generation – und darüber ein wenig hochmütig geworden. Wie sonst sind die vielen störenden Nachlässigkeiten bei einem so stilsicheren Lyriker, der klassische und moderne Versformen aus dem Handgelenk schüttelt, zu erklären? Seine Bemerkung über die ermordete Rosa Luxemburg: "Ein böses Omen, eine Frau stirbt vor dem Ende", entspricht nur dem monographischen Standard. Seine Verse über die amerikanische Westküste: "Alles trägt hier den Namen absurder Glückseligkeit", reichen alte Klischees weiter. Aber vielleicht gehören auch noch solche Stilbrüche zu einem Buch, das repräsentativ für die geistige Situation seiner Zeit sein will – und diesen Anspruch tatsächlich erfüllt!

 

Durs Grünbein: Nach den Satiren. Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 227 Seiten, 36 Mark


 
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