© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/00 10. März 2000

 
Deutschland: Im Sicherheitsatlas gibt es weiße Flächen
Der große Bruder hört mit
Michael Wiesberg

Ende Februar war das angloamerikanische Abhörsystem "Echelon" Thema einer Anhörung des Ausschusses für Bürgerrechte des Europäischen Parlamentes. Grundlage der Beratungen war der im April 1999 veröffentlichte Bericht "Interception Capabilities" des britischen Journalisten Duncan Campbell, der seine Untersuchungen dem Ausschuß erläuterte. Campbells Auftritt sorgte im deutschen Blätterwald für eine erstaunliche Resonanz. Erstaunlich deshalb, weil über das Thema "Echelon" seit Jahren immer wieder berichtet wird. Erst jetzt scheint jene "kritische Masse" erreicht zu sein, die auch politische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Campbell ist neben dem Neuseeländer Nicky Hagar, der 1996 ein einschlägiges Buch zum Thema vorlegte, der wohl versierteste Kenner von "Echelon".

"Echelon" ist keineswegs eine neue Entwicklung der Überwachungstechnik. Die Anfänge des von den USA in Verbindung mit Kanada, Neuseeland, Großbritannien und Australien betriebenen Spionagenetzes reichen bis in das Jahr 1947 zurück. Die USA und Großbritannien schlossen damals eine Vereinbarung zur nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung, der später Kanada, Australien und Neuseeland beitraten. "Echelon" ist der Deckname für ein System von leistungsstarken Horchstationen, die gleichmäßig über den Globus verteilt sind. Eine der leistungsstärksten Horchstationen steht in Menwith Hill, England. Eine andere in Bad Aibling in Bayern. Diese Horchstationen fangen die Signale der Telekommunikationssatelliten vom Typ Intelsat und Inmarsat ab, über die ein beträchtlicher Teil der internationalen Kommunikation abgewickelt wird. Leistungsstarke Computersysteme sollen mittels Suchmaschinen ("Dictionaries") in der Lage sein, aus der schier endlosen Menge an Nachrichten die für die entsprechenden Geheimdienste relevanten Daten herauszufiltern. Die Betonung liegt auf "sollen", denn die Existenz bzw. Funktionsfähigkeit der Wortsuch-Software ist keineswegs unumstritten. "Was hingegen funktioniert", so Campbell, "ist das automatische Erkennen der Stimmprofile bestimmter Personen im Datenstrom und das Herausfiltern der dazugehörigen Telefonate. Der neueste Trend ist aber, ganze Gesprächsthemen automatisch zu klassifizieren – eine vielversprechende Technik, die nicht auf dem korrekten Erkennen einzelner Wörter beruht."

Das angloamerikanische Lauschkartell, das unter der Führung des US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA) stehen soll, soll aber nicht nur E-Mails, Faxe und Telefonate umfassend überwachen können, sondern auch in der Lage sein, über geheime Programme, die in Software von Unternehmen wie Microsoft, Lotus und Netscape eingebaut ist, in vernetzte Computer eindringen zu können. Campbell berichtete in Brüssel, daß 1999 in einem E-Mail-System, das mit Windows-Software lief, Schlüssel der NSA gefunden wurden.

Microsoft, Lotus und Netscape, so die Mutmaßung Campbells, hätten sich verpflichtet, ihre Software so zu gestalten, daß ein Zugriff der NSA auf die Daten des jeweiligen Benutzers möglich sein soll. Die USA haben laut Herald Tribune vom 25. Februar alle Vorwürfe, die Campbell erhoben hat, bestritten. Der Sprecher des US-State Departments, James Rubin, erklärte, daß die US-Geheimdienste nicht mit Wirtschaftsspionage beauftragt seien.

Pikant an der Affäre ist aus Sicht der EU vor allem die Tatsache, daß auch Großbritannien zum Echelon-Abhörkartell gehört. Eine gemeinsame Sprachregelung hat die britische Regierung im Hinblick auf ihre Echelon-Aktivitäten bisher nicht gefunden. Während Premierminister Tony Blair die Kooperation mit den USA verteidigte, bestritt das Außenministerium kategorisch die in Campbells Bericht "Interception Capabilities" erhobenen Vorwürfe. Frankreich zumindest gibt sich mit derartigen Erklärungen nicht zufrieden. So forderte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Paul Quillès, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Allzu glaubwürdig wirkt Frankreich allerdings nicht in der Rolle des Anklägers, betreiben die Franzosen doch selbst in nicht unerheblichem Maße Wirtschaftsspionage, auch gegen befreundete Staaten.

In Deutschland sind die Geheimdienstleiter seit Ende letzten Jahres der Überzeugung, daß Deutschland im internationalen Weltwirtschaftskrieg eine Insel der Seligen darstellt. Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau und BND-Chef August Hanning wurden letztes Jahres durch den NSA-Horchposten Bad Aibling geführt und fanden keine Indizien für irgendeinen Verdacht. Darüber hinaus versicherte der Chef der Abhöranlage, General Haden, daß sich die elektronische Aufklärung weder "gegen deutsche Interessen richtet noch gegen deutsche Gesetze verstößt".

Damit gaben sich Uhrlau und Hanning zufrieden. Insider kommen zu ganz anderen Schlüssen. So kritisierte zum Beispiel der Abhörspezialist Hans-Georg Wolf in einem Interview mit dem Computermagazin C'T, daß Wirtschaftsspionage in vielen Staaten höchste Priorität zukomme. "Nur in Deutschland wird immer so getan, als ob der Geheimdienst ganz andere Aufgaben habe", so Wolf. Und weiter: "Deutschland wird international in vielen Bereichen als weiße Fläche im Sicherheitsatlas der Welt betrachtet, zusammen mit ein paar anderen Ländern der Europäischen Union".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen