© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/00 03. März 2000

 
Finanzmärkte: Die Götterdämmerung der Globalisierung bleibt aus
Deutschland im Aktienfieber
Susanne Henrici

Am Montagmorgen begann an der Frankfurter Börse wieder einmal die Blutmühle zu mahlen. Am Freitagabend war der Dow Jones erstmals seit zehn Monaten unter der magischen Marke von 10.000 Punkten aus dem Handel gegangen. Unter diesem Eindruck gab der Deutsche Aktienindex (DAX) zeitweise über 200 Punkte nach. Der Neue Markt (NM), das Börsensegment der Hightech-Werte, beunruhigt durch Verluste des großen Bruders, der US-Technologiebörse Nasdaq, lag im Tagestief gar bei 460 Punkten im Minus. Passend dazu hatte das Handelsblatt mit einem Fanfarenstoß getitelt, daß dem NM jetzt eine 40prozentige Korrektur bevorstehe.

Also ist es doch nichts mit jenen Aussichten, die sich in den letzten Wochen eröffneten? Bleiben die Deutschen ihrem Sparbuch treu? Ist für die Altersversorgung auf die Aktie als Alternative zur Rentenversicherung kein Verlaß? Wird sich die Zahl der Aktionäre von gegenwärtig knapp fünf Milionen innerhalb der nächsten vier Jahre nicht, wie prognostiziert, verdreifachen?

Ungeachtet derartiger Perspektiven, die sich in den kommenden Monaten mit jedem neuen Kursrutsch vielleicht noch verdüstern werden, sollte auch das Heer der Kleinanleger beherzigen, daß das Geheimnis der Erlösung in der Erinnerung liegt.

Erinnern wir uns also. An Deutschland im Börsen-Herbst 1999. Der 70. Jahrestag des "Schwarzen Freitag" am 25. Oktober 1929 warf seine Schatten voraus. Den abergläubischen Börsianern rund um den Globus muß Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr nicht erst im philosophischen Proseminar nahegebracht werden. In jedem Herbst fürchten sie schließlich die Wiederkehr des großen Kladdaradatsch, des "Crash", der den ewigen Sonntag steigender Kurse abrupt beendet und Millionen Existenzen vernichtet. Nur ausgeblieben ist der Crash, von einem argen Rücksetzer im Oktober 1987 einmal abgesehen, in jedem Jahr. Selbst 1998, als es an so vielen Plätzen gleichzeitig brannte: Schuldenkrise in Rußland und Brasilien, Dauerrezession in Japan, Konjunktureinbrüche und Währungsturbulenzen in den ostasiatischen Tigerstaaten, dazu die Fehlspekulationen US-amerikanischer Fonds-Haie, deren explosive Folgen für das internationale Finanzsystem nur durch eine konzertierte Aktion einiger Großbanken eingedämmt wurden. Weltweit gingen die Aktienindices in die Tiefgarage. Bis dann schon im November 1998 wieder die Erholung einsetzte. Anfang Januar 1999, als der Euro auf den Finanzmärkten debütierte, gerieten DAX & Co. sogar außer Rand und Band.

Das Mega-Waterloo der Crash-Propheten

Aber im Herbst 1999, wie gesagt, hielt die Crash-Angst alle Marktteilnehmer wieder fest im Griff. Und es fanden sich Untergangspropheten zuhauf. Ed Yardeni zum Beispiel, Chefökonom der Deutschen Bank in New York. Seine Millenniums-Horror-Szenarien füllten monatelang die Spalten der Wirtschaftspresse. Er bestätigte im November 1999, daß das "Y2K"-Problem, die Datumsumstellung zum Jahrtausendwechsel, mit 70prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Crash an der Wall Street auslösen und den Industrieländern sowie den "emerging markets" in Asien und Südamerika eine tiefe Rezession bescheren werde. Theodor Schmidt-Scheuber, einer der wenigen deutschen Investmentbanker, die sich einen Platz in der New Yorker Hochfinanz eroberten, sah alle Spielregeln der Börse außer Kraft gesetzt und warnte im Handelsblatt :"Die Börsenkorrektur wird viel schlimmer als 1987 werden." Ralph Acampora, einer der Superstars unter den Analysten der US-Investmenthäuser, korrigierte kleinlaut seine Juli-Prognose: Der Dow Jones werde bis Weihnachten wohl nicht 12.000 schaffen. Vielmehr gehe er demnächst auf 9.000 Punkte zurück. Am 27. September titelte die FAZ: "Die Angst vor einem Crash an Wall Street geht um." Im Oktober schwoll der Chor der Kassandrarufer unüberhörbar an. Achim Matzke, Commerzbank-Analyst, schrieb am 30. Oktober über den NM, daß es Richtung Südpol gehe und sich Anzeichen für eine Bodenbildung kaum entdecken ließen. Acamporas Kollegen Bloch, Shobin und McCabe machten mit Entsetzen noch Ende November auf die "fehlende Marktbreite" der zaghaften Erholung aufmerksam. Obwohl der DAX zu diesem Zeitpunkt sein Oktobertief von 5.100 verlassen hatte und bei 6.150 Punkten stand, hieß es in der FAZ: dadurch erhöhe sich nur das Rückschlagpotential. Und je näher Silvester rückte, desto höher schossen ökonomisch-finanzpolitische Endzeitphantasien ins Kraut. Auch die extreme Linke und die extreme Rechte kommentierten mit mehr als nur klammheimlicher Freude das vermeintlich nahe Ende der "antihumanen Gesellschaftsform" der Marktwirtschaft (Robert Kurz) und die "Götterdämmerung der Globalisierung" (Horst Mahler). Unterfüttert wurde das Szenario mit einer Springflut von Empfehlungen zur Entwicklung einzelner Aktien, von denen sich die meisten heute als falsch herausstellen. Decken wir den Mantel des Schweigens darüber. Wer nichts wird, wird Wirt – oder Wertpapieranalyst.

Ende Februar 2000, acht Wochen nach dem ausgebliebenen Millenniums-GAU, haben DAX und NM eine nie erlebte Mega-Hausse hinter sich. Fast jede Neuemission am NM beglückt die Zeichner mit Traumgewinnen. Als am 22. Februar die Biodata AG aufs Parkett trat, eine Firma für Sicherheitslösungen im Internet, schoß der Kurs in der ersten Stunde um 430 Prozent nach oben. Und im World Business Report der BBC krächzte Richard Quest nahezu allabendlich: "The Nasdaq set another record." Ungeachtet des schrillen Boykott-Geschreis um Haider-Österreich kletterten die am NM gelisteten Qualitätstitel aus der Alpenrepublik, die AT&S, Fabasoft oder Plaut von Gipfel zu Gipfel – in schöner Eintracht übrigens mit israelischen Werten wie Orad und OTI On Track, jener Firma, die kontaktlose SmartCards produziert, die den Zugang der Palästinenser nach Israel für jüdische Sicherheitskräfte kalkulierbarer macht. Und selbst die lange eingeschlafene Sanochemia, eine Wiener Biopharma AG, die Präparate gegen Alzheimer entwickelt, erlebte kurz nach der Etablierung der ÖVP/FPÖ-Koalition eine 150-Prozent-Steigerung. Vielleicht aufgrund der plötztlichen Nachfrage unter Gutmenschen nach dem Motto: "Gegen das Vergessen".

Mit anderen Worten: Mit dem Eintritt ins neue Jahrtausend schien man auch im Aktien-Wunderland angekommen zu sein. In seiner Show animierte Harald Schmidt Teenies zum Börsenspiel, die ihren malochenden Alten vormachten, wie man mit der richtigen Aktie im Handumdrehen 20.000 Mark einspült. So etwas erschüttert natürlich die Arbeitsmoral der malochenden Massen, die kurz vor dem Börsenstart der zur Volksaktie ausgerufenen Papiere von Infineon Technologies ihre Fließbänder und Bürosessel verlassen, um einen Anlageberater zu konsultieren.

Auf den langfristigen Konjunkturwellen surfen

So feiert das Wappentier des Staatssozialismus unvermutet ein Comeback: Die Schlange, die sich im entfesselten Turbokapitalismus jedoch nicht vor Konsumläden, sondern vor Banken und Sparkassen bildet. Der Ansturm blamiert mittlerweile das vielgerühmte Online-Banking, die Aktienorder per Mausklick oder Telefon. Triumphen der Internet-Technik sind offenbar harte Grenzen gesetzt: Wenn bei Comdirect oder Consors täglich Myriaden von Orders einströmen, erklingt für die Kunden immer häufiger das Besetztzeichen.

Obwohl das Kleinanleger-Heer schon für eine Milliarde Aktien der Siemens-Tochter gezeichnet hat, heizen Welt-Überschriften wie "Das Infineon-Fieber steigt und steigt" die Stimmung an, so daß Börsianer witzelnd die Frage stellen, wann die Bild-Zeitung auf ihrer Titelseite statt nackter Tatsachen ein Musterdepot einrückt.

Bringt der Montagsschock all diese schönen Blütenträume vom schnellen Geld und Fond-gesicherter Rente jetzt zum Platzen? Die Erinnerung an das leere Krisen- und Endzeit-Geschwätz lehrt, die Nerven zu behalten. Das Risiko, nicht in Aktien investiert zu sein, kann teuer zu stehen kommen. Wer nicht nach kurzfristigem Gewinn giert, wer notorische Zockerwerte meidet, wer den Analysten mißtraut, wer sein Geld nicht allein in einzelne Aktien sondern auch in Fonds steckt, wer auf die makroökonomisch zukunftsträchtigen Branchen setzt, den dürfte sein Depot im Auf und Ab der Kurse weiter ruhig schlafen lassen.

Zu gezügeltem Optimismus geben vor allem einige säkulare Trends Anlaß, die jede Krisenpanik der nächsten Jahre als relativ kurzatmig erscheinen lassen werden. Da ist zunächst die Liquidität, über die die Babyboomer in den USA und die europäische Erbengeneration gebieten. Dieses Geld wird weiter nach lukrativer Anlage suchen. Von größerer Bedeutung ist, daß die Globalisierung mittelfristig eine Welle von Fusionen nach dem Muster von DaimlerChrysler und Mannesmann-Vodafone auslöst. Daraus resultiert für die Aktienmärkte mehr als nur eine anhaltend hohe Phantasie. Hand in Hand damit dürfte die Liberalisierung bisher reglementierter Märkte wie im Bereich von Telekommunikation und Energiewirtschaft gehen. Anhaltender Wettbewerbsdruck und weltweit unausgelastete Kapazitäten wirken sich preisdämpfend aus. Der zunehmende Handel über das Internet, in allen kostenreduzierenden Varianten wie E-Commerce, Business to Business und die Integration von Telekommunikations- und Informationstechnologie sowie dem Mediensektor, eröffnet unabsehbare Wachstumschancen. Langfristig werden sich bisher getrennte Wertschöpfungsaktivitäten zu einer stärker integrierten Wertschöpfungskette verbinden. Die Transformation der Wirtschaft in die Informationsgesellschaft im Zeichen der "New Economy" ist in vollem Gange. Wenn sich auch in einem quälenden Prozess die Spreu vom Weizen erst trennt, so steht jetzt schon fest, daß das Internet-Potential im kommenden Jahrzehnt die Aktienkurse im Technologiesektor vielleicht nicht unablässig explodieren läßt, sie aber auf hohem Niveau hält. Als weiteres Wachstumsgebiet tut sich die Gesundheit auf. Einen Vorgeschmack darauf geben seit Monaten kletternde Kurse lange unbeachteter Biotechnologie- und Medizintechnikwerte. Gesundheitsnahe Branchen wie Sport, Ernährung und Tourismus werden daran partizipieren. Ein verwandtes Wachstumsfeld erschließt sich aus der Sicherung der Umwelt. "Immer mehr Menschen seien bereit, für saubere Luft, reines Wasser, geringere Lärmbelästigung und die Erhaltung der Artenvielfalt zu zahlen. In Mitteleuropa verfüge der Umweltmarkt über gute Chancen, zum Träger eines neuen, langen Aufschwungs zu werden", zitierte die FAZ Rüdiger Ginsberg, einen Anlagestrategen der Frankfurter Union Investment.

Nicht daß die JUNGE FREIHEIT sich auf dem boomenden Markt der Anlagemagazine empfehlen möchte: Aber immerhin stand in diesem Blatt (JF 33/99) zu einer Zeit, als die bundesdeutsche Wirtschaftspresse den sicher geglaubten Crash zu beschwören begann, daß man, ausgestattet mit einer gehörigen Portion geschichtsphilosophischen Gleichmuts und makroökonomischen Überblicks, an den Wachstumschancen der Zukunftsindustrie nicht zu zweifeln brauche. Als Anleger kann man auf der 1979 begonnenen, fünften großen, von der Informationstechnik getragenen Konjunkturwelle sanft dahingleiten, bevor man dann um 2010 auf die sechste, die Welle der Gesundheitstechnik aufspringt.


 
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