© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/00 03. März 2000

 
Analyse: Landtagswahl in Schleswig-Holstein
Gnade vor Recht
Moritz Schwarz

Herr Streit, zwar hat die CDU vergangenen Sonntag in Schleswig-Holstein einige Prozentpunkte verloren und dadurch auf Grund der Konstellation eine Niederlage erlitten, aber sie ist doch nicht wirklich vom Wähler bestraft worden?

Streit: Wenn Sie sich die letzten Wahlergebnisse in Schleswig-Holstein anschauen, haben Sie recht, wenn sie sich die Umfrageergebnisse dort von vor sechs Monaten ansehen, dann ist sie sehr wohl bestraft worden. Tatsache ist aber, sie hat Verluste erlitten. Unterschätzen Sie nicht, was das bei uns für eine Partei bedeutet.

Die CDU hat einige Prozent verloren, Spitzenkandidat Volker Rühe wird nun nicht Ministerpräsident. Scheint so, als sei Herr Rühe mehr bestraft als die CDU?

Streit: Volker Rühe geht jetzt wohl zurück in die Bundespolitik. Doch die CDU ist auch bestraft: Nicht nur ist aus einem Beinahe-Wahlsieg eine glatte Niederlage geworden, auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sind weiterhin uneindeutig.

Die CDU-Spendenaffäre ist ein historischer Einschnitt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Viele haben also auch mit einer historischen Wahlniederlage gerechnet?

Streit: Zweifelsohne handelt es sich um einen historischen Einschnitt für die Parteiengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wären vergangenen Sonntag im Bund Wahlen gewesen, so hätte sich die Spendenaffäre möglicherweise wesentlich heftiger ausgewirkt.

Haben die Wähler denn tatsächlich Landes- und Bundespolitik auseinandergehalten?

Streit: Das ist einer von drei Gründen. Zweitens hat sich nun die erste Aufregung in der Affäre schon gelegt. Drittens war Herrn Rühe nicht zu widerlegen, daß er nicht in die Machenschaften der alten Parteiführung verstrickt ist.

Die CDU leistet sich einen Betrug von bisher nicht gekanntem Ausmaß im Nachkriegsdeutschland. Doch die meisten Wähler machen weiterhin brav ihr Kreuzchen, egal was "die da oben" so treiben. Ist das nicht eine Form von Entpolitisierung?

Streit: Was würden Sie denn den Wählern vorschlagen: Nicht zur Wahl zu gehen? Ich halte es im Gegenteil sogar für ein Zeichen der politischen Vernunft der Wähler, daß sie über die Affäre hinaus die Politik, die betrieben worden ist, bewertet haben.

Hätte man nicht eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung gerade bei dieser Wahl erwarten können?

Streit: Durch den Druck, der nun auf der Union lastet, konnte sie ihre Kernwählerschaft in viel höherem Maße mobilisieren, weil man sich, wie Roland Koch das in der letzten Woche ausgedrückt hat, als Opfer einer Pressekampagne sieht. Das wiederum hat die Wähler der anderen Parteien veranlaßt ebenfalls für ihre Partei zur Wahl zu gehen, um der CDU deutlich zu machen, daß sie mit dem, was in den letzten Monaten offenbar geworden ist, ganz und gar nicht einverstanden sind.

Zwar hatten wir in Italien, als dort das etablierte Parteiensystem zusammenbrach, wesentlich schlimmere Zustände als bei uns, die Wähler dort waren allerdings auch erheblich mehr gewöhnt. Die strengen deutschen Wähler waren bislang Garant dafür, daß unser System bisher relativ frei von Korruption war?

Streit: Es ist schwierig, die beiden Länder zu vergleichen. Ein großer Unterschied ist natürlich, daß die demokratische Struktur der deutschen Parteien gemeinhin wesentlich höher ist als der Italienischen. Das gleiche gilt auch für die Regierungen dort. Entscheidend aber ist, daß wir in Deutschland ja noch in einer viel "früheren" Phase sind. Der Zusammenbruch in Italien kam, als dort bereits ganz andere Dinge offenbar geworden waren. Bei uns ist bislang noch keine Anklage erhoben worden. Wir müssen abwarten, was von den Staatsanwaltschaften in Bonn und Augsburg bzw. in Wiesbaden noch kommt. Solange verharren die Wähler noch bei oder in der Nähe der CDU.

Zum Beispiel bei der FDP? Also trifft die Analyse zu, die FDP habe in Kiel nicht wirklich gewonnen, sondern nähre sich nur vom Siechtum der CDU?

Streit: Ja, die Prozente der FDP sind die Prozente der CDU. Die rechten Protestparteien konnten nicht vom Unmut zehren. Die Mehrheit der Bürger billigt unserem etablierten Parteiensystem offenbar zu, daß es funktioniert, und kann dem Parteiensystem aufgrund dieses Funktionierens etwas abgewinnen. Also bewegen sie sich bevorzugt innerhalb dieses Parteiensystems. Man sucht nun nach der Partei, die möglichst viele der CDU-Inhalte ins Parlament transportiert, daß heißt, die auch garantieren kann, daß "meine" Stimme dort ankommt. Das können die Protestparteien nicht leisten. Spannend wird es bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai, wenn zwei affärenbelastete Parteien gegeneinander antreten.

 

Thilo Streit, 32, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht der Fernuniversität Hagen


 
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