© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Albrecht / Behrmann / Bock: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik
Homogenität wurde nur suggeriert
Karlheinz Weißmann

Ende des vergangenen Jahres löste ein Artikel auf der ersten Seite der Welt merkwürdige Reaktionen aus. In dem Beitrag – prominent plaziert – wurde die Auffassung vertreten, daß es in der Bevölkerung wegen der Entschädigungszahlungen für jüdische Zwangsarbeiter eine wachsende antisemitische Stimmung gebe. Auch der Hauptkommentar in der Ausgabe setzte sich mit dieser Möglichkeit und ihren bedenklichen Folgen auseinander. Daraufhin erschien in der FAZ wenige Tage später ein kaum kaschierter Angriff auf den Verfasser des eingangs erwähnten Textes, verbunden mit dem Vorwurf, er transportiere selbst antisemitische Affekte, indem er einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem tatsächlichen Verhalten von Juden herstelle. Antisemitismus sei aber nur ein "Vorurteil", d. h., er habe mit dem wirklich existierenden Judentum in keinem Fall zu tun.

Die Angelegenheit zog weitere Kreise nach sich in Gestalt eines Zeit-Artikels und anschließender Versuche der Welt, die ganze Sache irgendwie ungeschehen zu machen. Das war schon alles, und sicherlich wird das Ganze überhaupt nur einer kleinen Zahl von Lesern aufgefallen sein. Was sich hier abspielte, weist aber gewisse Berührungspunkte mit einem schon fast vierzig Jahre zurückliegenden Vorgang auf, nämlich der gescheiterten Berufung Golo Manns auf einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft in Frankfurt. Mann hat später öffentlich gemacht, daß es Max Horkheimer war, der 1963 seine Ernennung verhinderte, indem er ihn – Mann – als "heimlichen Antisemiten" denunzierte und die Berufung seines Schülers Irving Fetscher durchsetzte. Horkheimer und Mann kannten sich aus der Zeit des amerikanischen Exils, beide hatten in den fünfziger Jahren sporadisch zusammengearbeitet, ohne doch in engeren Kontakt zu kommen. Dann war die Stelle in Frankfurt vakant. Das Kultusministerium bat Horkheimer um eine Stellungnahme, und der reagierte mit der disqualifizierenden Feststellung.

Ausschlaggebend war ein Vortrag Manns über die historischen Ursachen des Antisemitismus gewesen. Darin hatte er die Tatsache erwähnt, daß der atemberaubende soziale Aufstieg eines Teils der europäischen Juden im 19. Jahrhundert ebenso wie die kulturelle Fremdartigkeit der aus dem Osten zuwandernden Juden dazu beigetragen habe, judenfeindliche, dann mit den modernen Rassenvorstellungen zum Antisemitismus verknüpfte Ideologien zu schaffen, die dem Nationalsozialismus vorarbeiteten. Genau diese Interpretation – immerhin im jüdischen Ner-Tamid-Verlag veröffentlicht – wurde jetzt als krypto-antisemitisch identifiziert und führte zu der ablehnenden Haltung Horkheimers und des eng mit ihm zusammenwirkenden American Jewish Comittee (AJC), der die offiziellen Stellen folgten.

Obwohl zwischen den geschilderten Vorgängen ein großer Zeitraum liegt und der Grad der Dramatik sehr unterschiedlich war, ist die Analogie offensichtlich: Hier wie dort wirkte die Tabu-isierung einer bestimmten Wortwahl und einer bestimmten Argumentationsweise und führte zur Ausgrenzung derjenigen, die die Sprachregel bewußt oder in Unkenntnis verletzt hatten. Die Setzung von Tabu und Regel sind Beispiele für die Art und Weise, in der die Frankfurter Schule ihren Einfluß auf das geistige Leben der Bundesrepublik erfolgreich etablieren konnte. Diese knappe Formulierung erweckt allerdings die Vorstellung von einer strategischen Kompetenz der Frankfurter Schule, die den Tatsachen kaum entspricht.

In den Beiträgen des unlängst von Clemens Albrecht herausgegebenen und in wesentlichen Teilen auch verfaßten Sammelbandes "Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik" wird gerade deutlich, daß der Begriff "Frankfurter Schule", der ja Homogenität im Denken und Agieren der aus der Emigration zurückgekehrten Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung (IfS) suggeriert, so niemals vorhanden war, weshalb die Bezeichnung auch erst von außen auf die Gruppe von Philosophen, Psychologen, Pädagogen, Soziologen und Politologen angewendet wurde, die sich um Horkheimer und Theodor W. Adorno und das in Frankfurt wieder gegründete IfS gebildet hatte. Umgekehrt soll aber die "Wirkungsgeschichte" der Frankfurter auch nicht heruntergespielt werden, wie es gerade in sympathisierenden Darstellungen geschieht. Es erscheint vielmehr als Leitmotiv der verschiedenen Aufsätze, daß die "Kritische Theorie" als "Hintergrundsideologie der zweiten deutschen Republik" (Clemens Albrecht) betrachtet und ernst genommen werden muß. Als sich Horkheimer und Adorno nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes zur Rückkehr in das zerstörte Deutschland entschlossen, geschah das mit der Absicht, die in der Weimarer Zeit begonnenen Arbeiten fortzusetzen. Allerdings hatten sich beider Fragestellungen und Ansichten unter dem Eindruck der Erfahrungen in den USA und der dramatischen politischen Veränderungen der dreißiger und vierziger Jahre gewandelt. Am deutlichsten wies die Teilnahme von Mitarbeitern des IfS an Plänen zur "Umerziehung" der Deutschen auf das zukünftige Tätigkeitsfeld der "Frankfurter" hin: die soziologisch gestützte Analyse und – falls notwendig – die volkspädagogische Korrektur gesellschaftlicher Entwicklungen.

Wer kam als politischer Partner für dieses anspruchsvolle Programm in Betracht? Noch bis zum Beginn der vierziger Jahre erwarteten Horkheimer und Adorno das Heil von der Arbeiterklasse. Aber das war lange vorbei, und Horkheimer hatte jedenfalls allen auf die Linke gesetzten Hoffnungen abgeschworen. Dementsprechend gab es für ihn auch gar keine Vorbehalte gegen die Kooperation mit der Regierung Adenauer, er unterstützte sie sogar praktisch bei Vorbereitungen für den Aufbau einer "neuen Wehrmacht".

Das IfS hatte Teil an jenem "antitotalitären Konsens", der gleichermaßen gegen die bestehende kommunistische Gefährdung wie gegen das Wiederaufflammen des Nationalsozialismus gerichtet war. Verständlicherweise beobachtete man aber mit besonderer Sensibilität alle Entwicklungen auf der radikalen Rechten und reagierte alarmiert, als es 1959 zuerst an der Kölner Synagoge und dann in vielen westdeutschen Städten zu Hakenkreuzschmierereien kam. Während Adenauer rasch – und wie man im nachhinein weiß: zutreffend – den Hintergrund des Kölner Vorfalls in Machenschaften des sowjetischen Geheimdienstes identifizierte, glaubten Horkheimer und Adorno an ein Menetekel.

Die Bundesregierung hatte keinen Erfolg mit ihren Beschwichtigungsversuchen und kam nicht umhin, die internationale Empörung dadurch zu dämpfen, daß sie die Anstrengungen im Hinblick auf die politische Bildungsarbeit noch intensivierte und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen besonderen Stellenwert einräumte. Dabei griffen die zuständigen Stellen in Bonn auf die Zusammenarbeit mit den "Frankfurtern" zurück. Horkheimer wurde Mitglied in einer "Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung". Das war ein wichtiges Element in dem schon seit den fünfziger Jahren von Frankfurt aus aufgebauten Netzwerk, dessen Funktionsweise vor allem durch zwei Beiträge von Günter C. Behrmann in dem vorliegenden Band beleuchtet wird.

Intensive Kooperation verband nicht allein das IfS mit Professoren und Universitäten, sondern wirkte bis in die Einrichtungen der Lehrerbildung und die Schulbuchlektorate. Von Stellungnahmen zu Lehrplänen und Unterrichtswerken bis zu direkter Einflußnahme auf die Zusammensetzung und Ausrichtung von Zeitungs- und Rundfunkredaktionen oder die Gestaltung der "edition suhrkamp" reichten dabei die Projekte.

Horkheimer geriet allerdings in den sechziger Jahren immer stärker ins Hintertreffen gegenüber Adorno, der mit sehr viel weniger Vorbehalt dem Linkskurs des Instituts und damit der Rückwendung zum Marxismus folgte, die Jürgen Habermas favorisierte, der schon zur zweiten Generation der "Frankfurter" in der Bundesrepublik gehörte, und die dann von dem in den USA zurückgebliebenen Mitglied des IfS, Herbert Marcuse, weiter radikalisiert wurde. Der Entfremdung von Adorno und der düsteren Stimmung, in der Horkheimer seine letzten Lebensjahre zubrachte, entsprach die bedenkliche gesellschaftliche und politische Entwicklung der Bundesrepublik: das wichtigste Ziel war verfehlt worden, nämlich die Gesellschaft gegen die totalitäre Versuchung zu feien.

Gerade die Jugend, der die Protagonisten der Frankfurter Schule nach dem Abschied vom Proletariat zugetraut hatten, den "Verblendungszusammenhang" zu zerstören, wandte sich jetzt einem "linken Faschismus" (Habermas) zu.

Es wird leider in dem hier vorgestellten Band nicht erläutert, ob Horkheimer in all dem auch eine Bestätigung seiner frühen Sorge gesehen hat, daß jede Singularisierung der deutschen "Vergangenheitsbewältigung" langfristig verheerende Folgen für die kollektive Psyche haben müsse. Er plädierte gegen Adorno dafür, die Massenverbrechen des NS-Regimes in die universale Leidensgeschichte der Menschheit einzurücken und den "Narzißmus" der Deutschen zu schonen.

Der wachsende und bis heute spürbare Einfluß der Frankfurter Schule auf das geistige Leben der Bundesrepublik wird im Grunde nur verständlich aus den besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit: der Desorientierung der Bevölkerung, den Erziehungsplänen der Alliierten einerseits, der neuen Intelligenz andererseits, dem Wunsch nach moralischer Rehabilitierung vor allem in der jüngeren Generation und einem gleichzeitig fortbestehenden Schuldbewußtsein, das man nur in metaphysischen Kategorien fassen kann. Diese Voraussetzungen allein erklären den Erfolg der Frankfurter Schule aber nicht, der hängt auch damit zusammen, daß die "Formation einer neuen Elite" (Albrecht) schon in den fünfziger Jahren nicht mehr durch die Bildung einer akademischen "Schule" im traditionellen Sinn möglich war, sondern nur durch die Schaffung eines "Lagers", das sich zur Verbreitung seiner Anschauungen der modernsten Methoden, das heißt der Massenmedien, bediente. Wie weit der Einfluß eines solchen Lagers reicht, ist nur schwer meßbar, eine Auflistung der Namen derer, die in der einen oder anderen Weise Kontakt zu den "Frankfurtern" oder zu von ihnen beeinflußten Institutionen hatten, kann sicher nicht ausreichen, zumal man so unterschiedliche wie Ludwig von Friedeburg, Dagobert Lindlau, Hans Süssmuth und Wolfgang Bergsdorf nebeneinander stellen müßte.

Vielleicht ist aber der öffentliche Umgang mit dem Buch ein Indikator für die Richtigkeit der in ihm enthaltenen Behauptung von der "intellektuellen Staatsgründung" in den sechziger und siebziger Jahren samt Etablierung der "Kritischen Theorie": Seit dem vergangenen Sommer schwirrten Gerüchte, daß zur Buchmesse ein Band über die Frankfurter Schule erscheinen werde, dem man en détail die Praktiken entnehmen könne, mittels derer die Gruppe um Horkheimer, Adorno und später Habermas in der Bundesrepublik die intellektuelle Macht übernommen habe. Dann erschienen die ersten Rezensionen, und der geneigte Leser war irritiert, irritiert über die völlig nichtssagenden Besprechungen. Wie heißt es im "Glossarium": "Elite sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt", falls es doch jemand versucht, wird die Taktlosigkeit mit Schweigen übergangen.

 

Clemens Albrecht / Günter C. Behrmann / Michael Bock: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Campus: Frankfurt am Main-New York 1999, 649 Seiten, 98 Mark


 
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